Süddeutsche Zeitung

Biologie:Blinder Sommer

Grüne Irrtümer, tückische Gülle, industrielle Landwirtschaft: Der Biologe Josef H. Reichholf erklärt, warum die Schmetterlinge zunehmend verschwinden und was sich tun ließe, das zu ändern.

Von BurkharD MÜLLER

Vor mehr als einem halben Jahrhundert machte ein Buch Furore, das den Titel trug "Der stumme Frühling". Die Autorin Rachel Carson sprach darin vom Verschwinden der Vögel, verursacht durch die flächendeckende Verwendung des Giftes DDT. Wollt ihr das wirklich, fragte sie, einen Frühling, in dem kein Vogel mehr singt? Nein, das wollten die Leute nicht; DDT wurde weitgehend verboten, die Vogelbestände erholten sich.

Nun könnte es sein, dass uns ein blinder Sommer bevorsteht - wenn man die Schmetterlinge mit ihren bunten Farben und oft markanten Augenflecken poetischerweise für die Augen der Landschaft erklärt. "Schmetterlinge: Warum sie verschwinden und was das für uns bedeutet", hat Josef H. Reichholf sein neues Buch betitelt. Reichholf, 73 Jahre alt, hat sich seit seiner Kindheit am niederbayerischen Inn mit wilden Tieren beschäftigt, auch den ganz kleinen, und lange in den Zoologischen Staatssammlungen in München gearbeitet, wo sich die größte Schmetterlingssammlung der Welt befindet.

Obwohl ein angesehener akademischer Wissenschaftler, verkörpert Reichholf doch einen älteren Typus des Biologen; für ihn zählt die persönliche Erfahrung in Wald und Flur mehr als die Ermittlung von Gen-Sequenzen im Labor und die computergestütze Erzeugung von Modellen. "Modelle", sagt er, "scheinen jedoch umso beliebter zu werden, je weniger die damit befassten Forscher die Natur selbst kennen." Als Praktiker, der die Folgen vor Ort sieht, misstraut er den Konzepten der Naturschützer in Ämtern und Politik, die nicht selten das Gegenteil von dem bewirken, was sie wollen - etwa wenn die modernen Kläranlagen derart effizient funktionieren, dass die Gewässer so gut wie keine Nährstoffe und folglich auch keine nennenswerte Fauna mehr enthalten. Das völlig realisierte Ideal des sauberen Gewässers, so merkt er an, ist das tote Gewässer.

Es ist allzu bequem, alles dem Klimawandel in die Schuhe zu schieben

Dieser wache erfahrene Blick ist unerlässlich, wenn man herausfinden will, was heute mit den Schmetterlingen passiert. Wenn Reichholf von ihrem gegenwärtigen Niedergang spricht, dann hat das nichts mit Nostalgie für die guten alten Zeiten zu tun. Schon mit fünfzehn Jahren hat er angefangen, Nachtschmetterlinge systematisch in speziell konstruierten Lichtfallen zu fangen, und das Resultat gewissenhaft analysiert. Übrigens legt er Wert darauf, dass er die eingefangenen Insekten hinterher wieder lebend freilässt.

Er verfügt also über verlässliches statistisches Material, das sich über sehr lange Zeiträume erstreckt und damit der Gefahr entgeht, dass seine Zahlen von den Zufallswerten der jeweiligen Sommerwitterung oder plötzlichen Massenvermehrungen oder -einflügen verfälscht würden. Schmetterlings-Populationen variieren sehr stark von Jahr zu Jahr; und doch gibt es keinen Zweifel am Gesamttrend, der steil nach unten weist. Die Anzahl der pro Nacht im Schnitt gefangenen Schmetterlinge ging von rund 250 um 1970 auf unter 50 in den jüngsten Jahren zurück; die Zahl der Tagfalter-Spezies in offenem Gelände hat im selben Zeitraum um 73 Prozent abgenommen. Der Schwund beträgt also grob gerechnet drei Viertel bis vier Fünftel sowohl der Arten als auch der Individuen. Inzwischen gibt es mehr Schmetterlinge in den Städten als auf dem Land; aber auch hier droht Veränderung. "Nachverdichtung" ist das Stichwort der Stunde; sie soll helfen, die "Zersiedlung" des Landes zu stoppen. Nachverdichtung, sagt der Autor, vernichtet gerade die interessantesten Biotope der städtischen Landschaft. Und wozu? Um die Integrität der zweieinhalb Millionen Hektar Maisäcker in Deutschland zu erhalten, die ökologisch toter Raum sind! Reichholf ist ein Ketzer, der die grünen Dogmen einer Prüfung unterzieht, der sie nicht immer standhalten.

Bei den Vögeln war, wie man spät genug herausfand, das DDT schuld. Und bei den Schmetterlingen? Heutzutage neigt man dazu, wie Reichholf beklagt, alles dem Klimawandel in die Schuhe zu schieben; das ist in gewisser Hinsicht sehr bequem. Doch wenn die Temperaturen steigen, ist das für Insekten, die ja keine eigenen Körperwärme erzeugen können, meistens ein Segen; es wäre eine Zu- und keine Abnahme zu erwarten. Außerdem wirkt ein verändertes Klima auf Insekten und Pflanzen gleichermaßen ein, und wenn eine gewisse Temperatur oder Tageslänge die Bäume dazu bringt, früher auszutreiben, so gilt Entsprechendes auch für die Insekten, die von und an diesen Bäumen leben. Dann startet eben alles Leben einfach zwei Wochen früher. Am Klimawandel also liegt es nicht. Woran aber dann?

Reichholf hat zwei, möglicherweise drei Ursachen im Visier und einen einzigen Verursacher. Erstens die Flurbereinigung, die massiv seit den Siebzigern griff und die kleinräumige Strukturen wie Raine, Hecken und Kleingewässer zerstörte. Sie allein aber hätte das gegenwärtige Desaster noch nicht hervorgebracht. Zweitens und als Hauptschuldigen macht Reichholf die allgemeine Überdüngung namhaft. Sie führt - und damit hätte der Leser gewiss nicht gerechnet - zu einer Abkühlung in dem für Insekten lebensentscheidenden Bereich, dem Mikroklima dicht überm Boden, weil nämlich die Pflanzen rascher und lückenloser wachsen als je zuvor und Schatten und Feuchtigkeit verbreiten, wo Insekten doch Sonne und Wärme brauchen. Eine erhebliche Menge der ausgebrachten Gülle und des Mineraldüngers steigt in die Luft auf und landet auch in Bereichen, die mit der Landwirtschaft nichts zu tun haben, in Wäldern und Gärten zum Beispiel. Und drittens spielen die Insektengifte eine Rolle, die aber, wie der Autor meint, noch nicht gut erforscht ist und möglicherweise überschätzt wird.

Verursacher ist in jedem der drei Fälle die industrialisierte Landwirtschaft. Ihr erklärt Reichholf den Krieg; und das ist der eigentlich aktuelle Aspekt seines Buchs. Es lohnt sich, seine Argumentation nachzuzeichnen, warum wir sie als den eigentlichen Feind zu betrachten haben. Die IL (wenn man sie einmal so abkürzen will) stiftet weit größeren Schaden als sämtliche sonstige Problemkomplexe, die die Debatte beherrschen - und genießt Immunität von allen Verordnungen. Wie kann man mit solcher Energie auf die Diesel-Emissionen losgehen, wenn das, was regelmäßig auf mehr als die Hälfte der Fläche Deutschlands gekippt und gespritzt wird, so viel verheerendere Folgen hat?

Das europäische Agrarsystem zu verändern erscheint aussichtslos, aber es wird zusammenbrechen

Man sollte ferner Abstand von der Vorstellung nehmen, dass "die Bauern" besonderen Schutzes und besonderer Schonung bedürften: Was einmal die Bauernschaft war, ist untergegangen, mehr als 90 Prozent der Betriebe haben in den letzten Jahrzehnten aufgeben müssen, geblieben ist eine gewisse Anzahl von Agrar-Unternehmern. Man fördert in der Landwirtschaft nicht mehr "das Land", sondern nur noch eine Minderheit der Menschen, die dort ansässig sind: eine kleine Lobby mit unverschämten Ansprüchen. Lebensfähig sind diese Betriebe nur aufgrund eines aberwitzigen Subventions-Systems, das sie gerade bei den unsinnigsten und schädlichsten Projekten unterstützt, also zum Beispiel bei der Umstellung auf die Produktion von Biosprit aus Mais und Raps. Heraus kommt eine staatliche Planwirtschaft, schlimmer als im Sozialismus - schlimmer, weil auf ihre Weise durchaus erfolgreich. Es wird nämlich viel zu viel produziert; und während im sonstigen Kapitalismus solche Überkapazitäten rasch durch Konkurrenzdruck ausgemerzt werden, greift hier ein gänzlich unangebrachter Protektionismus, der die Butterberge und Milchseen hegt und pflegt wie ein Naturschutzgebiet. Die Schmetterlinge werden von unseren Steuergeldern ausgerottet. Reichholf ist gelinde im Ton, doch radikal in dem, was er meint. Dass das europäische Agrarsystem sich reformieren ließe, hält er für ausgeschlossen; doch erwartet er zuversichtlich dessen Zusammenbruch: Dann erst gibt es eine neue Chance.

Wenn man Reichholfs Buch am Ende dennoch nicht in erbitterter, sondern in heiterer Stimmung aus der Hand legt, so liegt das an der Art, wie er zu erzählen vermag und den Leser an seiner lebenslangen Verzauberung durch die Schmetterlinge teilhaben lässt. Schmetterlinge sind (obwohl sie selbst davon wenig wissen können) einfach wunderschön; und nicht von ungefähr nennt das Griechische Schmetterling und Seele mit demselben Wort: psyche. Reichholf spricht davon, dass er auch nach sechs Jahrzehnten dieser Beziehung immer noch Schmetterlinge im Bauch fühlt. Das bedeutet bei ihm Anderes und Unbildlicheres als in den gängigen Kontaktanzeigen.

Josef H. Reichholf: Schmetterlinge: Warum sie verschwinden und was das für uns bedeutet. Hanser Verlag, München 2018. 287 Seiten, 24 Euro.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2018
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