Biografie:Sein war das Wort

Deborah Vietor-Engländers Biografie über Alfred Kerr, den Kritiker mit Schleuder und Harfe, erzählt die gesamte Lebensgeschichte dieses deutschen Juden, dem das Exil nach 1933 nicht das Rückgrat nahm.

Von Christopher Schmidt

Als Sohn des jüdischen Weinhändlers Emanuel Kempner wird der Kritikerkomet Alfred Kerr in der Weihnachtsnacht 1867 in Breslau geboren. "Gott hat mich eingesetzt, jedes Beiseitesprechen zu verhindern", sagt er später über seinen Logenplatz im Schöpfungsplan. Es war eine kalte Nacht, fast zehn Grad minus. "Doch frostig waren nicht nur die Wetterverhältnisse, sondern auch die Zeiten", schreibt Deborah Vietor-Engländer zu Beginn ihrer Biografie, der ersten, die Kerrs ganzes Leben umfasst.

Bei solch einer holprigen Überleitung ahnt man, weshalb Kerr seinerseits bald schon auf Überleitungen verzichtete und seine Kritiken in Paragrafen unterteilte. Kerr war ein Pointillist der Pointe, jede von ihnen mit dem Florett aufs Papier getupft. Er selbst bezeichnete Schleuder und Harfe als die Waffen seiner Wahl, er könne halt bloß entweder "jauchzen oder rülpsen". Kritik verstand er als Kunst und gleichberechtigte literarische Gattung neben Epik, Dramatik und Lyrik. Während andere mit Wasser kochten, erfand er in jeder brillanten Formulierung den Brühwürfel neu. "Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz." So sein twittereskes Schreibideal. Selbst seinen Namen hat er zum Einsilber verkürzt, als er sich von Kempner in Kerr umbenennt.

Aber selbst der große Kerr musste erst werden, der er war. Und sich beim Abitur mit "Deutsch: Genügend" bescheiden. Die Theaterleidenschaft ist da längst entfacht: "Ich war Fiesco die ganze Tertia hindurch; wie man zuvor Indianer gewesen." Kerr studiert Germanistik und Romanistik in Breslau und Berlin, wird mit einer Arbeit über Clemens Brentano promoviert. Den Ironiebegriff der Romantik streift er sich über wie einen Glacéhandschuh, passend zu "Frack und Lack und Claque", der Arbeitskleidung, in der er sich von 1890 an ins pralle Theater- und Gesellschaftsleben der "Pankestadt" Berlin stürzt: "Man kommt aus dem reinen Oberhemd gar nicht mehr raus."

Biografie: Mexiko springt für die Sowjetunion ein: Seit 1976 organisiert die Buchmesse regionale und thematische Schwerpunkte, seit 1988 stellt ein jährlich wechselndes Gastland seine Literatur, Kultur und Buchindustrie vor. 1992 war die Sowjetunion als Gastland vorgesehen - sie löste sich allerdings gerade auf. Die Buchmesse hatte ein Problem. "Wir brauchten dringend Ersatz", schreibt Peter Weidhaas, der langjährige Direktor der Buchmesse, in seinen Erinnerungen. "Der frühere Staatspräsident Mexikos, Miguel de la Madrid, hatte noch so viel Einfluss in seinem Land, dass er innerhalb von 14 Tagen Mexikos Gastlandauftritt in Frankfurt durchsetzen konnte", erzählt er weiter. Mexiko springt als Gastland für die Sowjetunion ein - die Buchmesse als Spiegel der Weltpolitik.

Mexiko springt für die Sowjetunion ein: Seit 1976 organisiert die Buchmesse regionale und thematische Schwerpunkte, seit 1988 stellt ein jährlich wechselndes Gastland seine Literatur, Kultur und Buchindustrie vor. 1992 war die Sowjetunion als Gastland vorgesehen - sie löste sich allerdings gerade auf. Die Buchmesse hatte ein Problem. "Wir brauchten dringend Ersatz", schreibt Peter Weidhaas, der langjährige Direktor der Buchmesse, in seinen Erinnerungen. "Der frühere Staatspräsident Mexikos, Miguel de la Madrid, hatte noch so viel Einfluss in seinem Land, dass er innerhalb von 14 Tagen Mexikos Gastlandauftritt in Frankfurt durchsetzen konnte", erzählt er weiter. Mexiko springt als Gastland für die Sowjetunion ein - die Buchmesse als Spiegel der Weltpolitik.

Sein feuilletonistischer Hausgott war Heinrich Heine; ein halbes Leben hat er dafür gefochten, dass ihm, dem deutschen Jude, wie er selbst einer war, ein Denkmal errichtet wird. Vom Antisemitismus hat Kerr sich ohnehin nicht verbiegen lassen, nie ernsthaft die Taufe erwogen, obwohl dies damals die Voraussetzung für eine akademische Karriere war, die sich die Eltern wünschten und die er zunächst auch anstrebte.

Wichtig konnte das Theater erst werden, als es welche gab, die es wichtig nahmen

Doch die Metropole bot schnellere Reize. Die rasch expandierende Presselandschaft musste genauso erobert werden wie die Damenwelt. Beide nahm Kerr im Sturm, verströmte sich hier wie dort - was dort angeht, zur Not auch mal im "Fickhotel". Sein chronisches Herzeleid verpflastert der junge Kerr mit elegisch-geschmerzten Prosadichtungen, "Quittungen für Erlebtes". Und schickt seine "Plauderbriefe" nach Breslau und Königsberg. Als schreibender Großstadtflaneur spießt er für die dortigen Zeitungen das Vermischte lässig mit dem Spazierstock auf.

Kerr reüssiert als sturzfrecher Starschreiber und verwöhnte Lästerzunge. In seinem Hauptamt als Kritiker wird er "ein bisschen Papst mit Pensionsberechtigung", wie er wehmütig im Exil notiert. Kerr bringt einen neuen, direkten Ton ins akademisch vermuffte Rezensionswesen, begründet die mit nervöser Energie aufgeladene "Erlebniskritik". Er reitet und streitet gegen die "Rückwärtserei" in Kunst und Politik. Das Theater ist aufregend und bald Leitmedium. Man kämpft um Deutungshoheit und Meinungsführerschaft, versucht die Kritiker-Konkurrenten wegzubeißen. "Sie arbeiten mit Stinkbomben, er mit Curare", schreibt der Dramatiker Hermann Sudermann über Kerr und Kollegen.

Die Zeitungen sind eine eigene, zweite Bühne, auf der die sich gegenseitig zerfleischenden Kritiker dem Publikum schmutziges Entertainment bieten. War das Feuilleton damals insiderischer, inzestuöser als heute? Oder nur rauflustiger? Einerseits missbrauchten die Widersacher ungeniert ihre jeweiligen Blätter, um übereinander herzufallen, die Rivalen mit Spottgedichten und peinlichen Enthüllungen zu vernichten. Andererseits ist Alfred Kerr das beste Beispiel für ein Selbstverständnis von Kritik, das Entwicklungen im Zusammenhang darzustellen, Tendenzen zu erkennen und zu befördern suchte. Wichtig konnte das Theater erst werden, als es welche gab, die es wichtig nahmen.

Biografie: Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.

Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.

Der Machthunger fand jedoch keine Grenzen; bald schon wollte auch Kerr wie andere Herausgeber einer eigenen Zeitung sein und wurde es beim Pan, den er zuletzt fast allein vollschrieb. Es ging darum, sich eine publizistische Plattform zu verschaffen, ein wehrhaftes Mutterschiff. Im Falle Kerrs zum Beispiel, um Karl Kraus in Wien in die Schranken zu weisen. Kerr zu zerstören, war für Kraus fast schon zur Besessenheit geworden. In den Zwanzigerjahren kramt er dessen chauvinistische Verse aus dem Ersten Weltkrieg hervor und verbreitet, Kerr sei der Autor des "Gottlieb"-Gedichts "Serbien muss sterbien". Der Streit endet vor Gericht und wird letztlich niedergeschlagen. "Die faden Fehden", so fasste Kerr seinen Krieg mit Kraus zusammen. Zum Weltkriegsjubiläum 2014 gab es noch einmal den Versuch, Kerrs Kriegspoesie zu skandalisieren.

Im Exil wird sein Ruhm zur Last, weil sich niemand traut, ihm eine Arbeit anzubieten

Auch im Privaten war das Leben nicht frei von Intrigen. Mit fünfzig Jahren bindet Kerr sich zum zweiten Mal und heiratet die dreißig Jahre jüngere Julia Weißmann. Deren Vater setzt bezahlte Schläger auf den verhassten Schwiegersohn an. Kerr löst das Problem gewohnt entspannt und geht mit den Auftrags-Angstmachern Bier trinken. Die ohnehin labile Julia jedoch versucht, sich mit Veronal zu vergiften.

Schon der junge Kerr nimmt sich regelmäßig Auszeiten von den Bühnengrabenkämpfen und geht auf Reisen - er fährt nach Italien, Frankreich, England, aber auch nach Palästina und mehrmals in die USA. Reisereportagen entstehen, aus denen wiederum Bücher werden. Dass in einer der letzten Berliner Premieren, die er bespricht, Gustaf Gründgens den Mephisto spielt, also die Rolle, die als Goebbels' Günstling auch politisch seine Lebensrolle wurde, ist eine makabre Pointe. Zwei Wochen nach Hitlers Machtergreifung verlässt Kerr Deutschland. Nur mit einer kleinen Reisetasche setzt er sich nach Prag ab und holt Julia und die beiden Kinder, Michael und Judith, in die Schweiz nach. Was folgt, sind die zermürbenden Jahre des Exils unter elenden Bedingungen - der eindrücklich erschütternde Teil dieser materialreichen Biografie, die Kerrs Lebenslinien akribisch nachzieht.

Denn Alfred Kerr wird jäh aus allen Daseinszusammenhängen gerissen, als hätte jemand einen Kippschalter umgelegt. Die Stellung wird ihm fristlos gekündigt, die Staatsbürgerschaft entzogen, der Doktortitel aberkannt. Vor allem aber verliert er die Sprache und damit sein Element. Die Familie geht zunächst nach Paris, und obwohl Kerr weiterhin Theaterkritiken schreibt, ist er ein abgedankter König. Er ist ihm für immer weggebrochen, der hochinformierte Kreis der Leser, die jede seiner Anspielungen verstehen, all die Kalauer, Wortspiele und Parodien. Kerrs Schicksal zeigt, dass immer Nachbarschaften nötig sind, ein bestimmtes Mikroklima, damit das lebendige Gespräch namens Feuilleton entstehen kann. Heute ist dieses Biotop, das es mal gab, ausgetrocknet, auch ohne Diktatur und Exil.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Mit Hilfe einer Flüchtlingsorganisation kommen die Kerrs nach London; sie werden nie wieder eine eigene Wohnung haben, kein Bankkonto und einen Pass erst nach vielen Jahren. Weil sie nicht als Staatenlose registriert wurden, gelten sie bei Kriegsausbruch als "Enemy Aliens", was die Arbeitssuche noch schwieriger macht. Kerr versucht alles und schreibt sich die Finger wund: Filmskripts, Bücher, Zeitungsbeiträge, aber seine wichtigste Textform ist nun der Bitt- und Bettelbrief. "Unser Dasein hier ist eine Woolworth-Existenz; und es reicht oft nicht für Woolworth", heißt es in einem dieser Briefe.

Trotz allem verliert Kerr nicht den Mut und nicht den Witz. Er habe so wenig Talent zum Unglücklichsein, schreibt er einmal. Und spottet: "Zwei Mächte verfolgen mich: die Braunen in Deutschland, die Wolligen in England." Gemeint ist der ewige Hammeleintopf. Die bitterste Ironie ist, dass niemand sich traut, einer Berühmtheit wie ihm eine Arbeit anzubieten, die seiner nicht würdig sein könnte. Sein Nimbus wird ihm zum Hungertuch.

Auch nach dem Krieg wird es nicht leichter. Das Papier ist knapp in Deutschland, der Platz zum Schreiben begrenzt. "Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; / Vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen", dichtet er noch, der leise Nachklang eines Heine-Gedichts ist da zu hören. Bei einem Besuch in Hamburg werden seine Verse wahr. Am 12. Oktober 1948 setzt Alfred Kerr nach einem Schlaganfall, nicht dem ersten, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende. So klaute er sogar dem Tod noch die Pointe.

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