Biografie:Einklang und Ekstase

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Er ist ein Besessener der Noten, ein Triebtäter am Pult: Der Dirigent Riccardo Chailly erzählt die Musik seines Lebens.

Ziemlich rastlos, dabei stetig verläuft die Dirigentenkarriere des Mailänders Riccardo Chailly. An diesem Montag dirigiert er zum ersten Mal die Saisoneröffnung am Teatro alla Scala, die legendäre "Inaugurazione" des größten Opernhauses Italiens: Verdis Schiller-Oper "Giovanna d'Arco", mit Anna Netrebko (21.50 Uhr bei Arte). Mit einem Buch kann er sich, wie manche Kollegen, zusätzlich Anerkennung verschaffen.

Früh geht es los bei ihm: Chailly ist Jahrgang 1953, mit einundzwanzig wird er Assistent Claudio Abbados an der Scala, acht Jahre später leitet er das Radio-Symphonie-Orchester Berlin, dann fünfzehn Jahre lang das Concertgebouw Orchestra in Amsterdam. Dazwischen die Musik am Opernhaus in Bologna. Leipzig macht ihn 2005 zum Gewandhauskapellmeister, die Mailänder Scala jetzt zum Musikdirektor.

An diesem Montag dirigiert Riccardo Chailly zum ersten Mal die Saisoneröffnung am Teatro alla Scala, die legendäre "Inaugurazione". (Foto: DPA)

Ein Triebtäter am Pult ist Chailly, ein Besessener der Noten. "Der lange Deutungsweg durch eine Partitur beginnt für mich mit einer unbezähmbaren Neugier und dem Verlangen, in das Universum der Musik einzudringen und jeden Winkel dort zu erforschen." Chailly hat sich für das Gesprächsbuch mit dem Musikkritiker Enrico Girardi zusammengetan, dem er seine Erfahrungen mit Orchestern, Partituren, Komponisten und dem Phänomen Pultherrschertum anvertraut.

Chailly erzählt beschwingt vom Glück, früh den geebneten Weg vorzufinden. Sohn eines Komponisten, der auch Musikschriftsteller war, wuchs er auf in der Welt komplex schöner Klänge, der Konzertsäle Mailands und der Scala. Und der Assistent Abbados denkt an seinen großen Mentor, diesen "Inbegriff künstlerischer Inspiration", der ihm "tiefe Einblicke in seine Vorstellungswelt und genaue Instruktionen" gab. Zwanzig "Wozzeck"-Proben Abbados hat er hautnah erlebt, "am Ende gab er mir seine Partitur mit all seinen Anmerkungen, die ich mir dann eins zu eins übertragen habe". Abbado bedeutet Chailly die Erweckung. Man arbeitet gemeinsam an den Brahms-Symphonien: "Claudio präparierte mich minutiös für die Probenarbeit, und dann vertraute er mir sein Orchester bedenkenlos an." Dass Chailly das Buch mit dem Bekenntnis zur Stille beginnt, klingt nach einer Huldigung an Abbado: "Musik ist nichts anderes als ein ständiger Dialog zwischen Klang und Stille."

Riccardo Chailly: Das Geheimnis liegt in der Stille. Gespräche über Musik. Aus dem Italienischen von Michael Horst. Verlag Henschel/Bärenreiter, Leipzig und Kassel 2015. 192 Seiten, 22,95 Euro (Foto: N/A)

Überraschend: der Furor für den zauberischen Innovator Varèse

Spürt er beim Dirigieren Allmachtsgefühle, den Machtrausch? Nein. Chailly sucht "Einklang" mit den Musikern, dem Publikum. Gelingt es, gibt er zu, kann er in "eine Art Ekstase" geraten, "ein Gefühl der Dankbarkeit für ein so intensives gemeinsames Erlebnis". Was riskant sei, denn im Überwältigtsein liege die Gefahr des Kontrollverlusts. Letztlich seien die Augen entscheidend, "eine kluge Kombination von Gesten und Blicken kann alles transportieren". Gelinge das gemeinsame Atmen von Dirigent, Orchester und Publikum, "fühle ich, wie ein warmer Strom, eine Flut von Emotionen durch mich hindurchfließt".

Mehr als die Hälfte des Buchs gilt Überlegungen zu "seinen" Komponisten. Chailly mischt temperamentvoll musikalische Beobachtung, Beschreibung, Stilwissen mit persönlichen Begebenheiten. Spricht über seine "glühende Leidenschaft" für Bach und bewundert dabei den Erneuerer Nikolaus Harnoncourt. Doch genauso den Komponisten Franco Donatoni, der die "Kunst der Fuge" für modernes Orchester "genial" frei transkribiert habe. In Chaillys Fokus: Mozart, Mendelssohn, "das Rätsel der Originalität" Beethoven, der akribische Konstruktivist Brahms, der perfekte Bartók. Chaillys Furor für den zauberischen Innovator Varèse überrascht, sämtliche Orchesterwerke hat er in Amsterdam dirigiert und auf CD aufgenommen, während Schostakowitschs Symphonien noch auf der Warteliste stehen. Mit wieviel Kompetenz und Verehrung Chailly über sie alle redet, erst recht über Mahler und Bruckner, das verweist auf die Kraft seines Musikertums: den Zusammenklang von Ratio und Erlebnis, Pragmatismus und Intuition.

Warum ist die Moderne des 20. Jahrhunderts scheinbar so schwierig? Der Sohn eines Komponisten sieht in ihrer Vermittlung einen "Teil meiner künstlerischen Verantwortung". Chailly hat einzelne Stücke von Luigi Nono, Luciano Berio und Pierre Boulez dirigiert, mit aller Vorsicht - man müsse "das Publikum an die Hand nehmen", ihm für das Neue Zeit lassen.

Es gibt keinen Italiener, der sich Rossini, Verdi und Puccini nicht besonders nahe fühlt. Chaillys Bewunderung für Rossini, dessen "Täuschungsmanöver", erscheint grenzenlos, Puccinis lyrische Kreativität rühmt er - immer anhand konkreter Beispiele. Und dann: "Meine Liebe zu Verdi schließt jedes einzelne Werke ein", der Favorit heißt "Otello", allein die Orchesterkunst sei ein "Wunderwerk der Erfindungsgabe". Verdis Genie spreche "aus jedem Takt seiner Meisterwerke". Übrigens hat Chailly "Giovanna d'Arco" bereits dirigiert, 1989 in Bologna. Der Regisseur hieß Werner Herzog.

© SZ vom 07.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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