Süddeutsche Zeitung

Biografie:Aufwachen mit Abba

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Martin ist elf Jahre alt, als seine Eltern 1980 von der Tschechei nach Deutschland fliehen wollen. Gerade als er sich in seine Pionierleiterin verliebt hat.

Von Matthias Drobinski

Seit er elf Jahre alt ist, weiß Martin, dass er bald ein Emigrant sein wird. Seine Eltern haben ihm gesagt, dass sie rauswollen aus dem tristen Kaff nahe Prag, aus der Tschechoslowakei des Jahres 1980, dass sie in den Westen wollen. Nach Kanada oder Amerika. Oder vielleicht doch lieber nach Deutschland, das liegt näher.

Im Westen sind Freiheit und Demokratie, so verkündet es Radio Free Europe, die müssen es wissen. Es gibt dort Westmusik und Jeans und Matchboxautos in allen Größen. Im Westen gibt es sogar Shampoo, das nach Apfel riecht, und weiße Schokolade. Weiße Schokolade! Die ideologisch gefestigte Lehrerin hält das für Propaganda des Klassenfeindes, bis Martin ihr die Kostbarkeit unter die Nase hält, leider verpackt in eine alte Seifenschachtel, weshalb die weiße Schokolade jetzt nach Seife schmeckt.

So gesehen ist die Sache mit der Emigration klar, mag sie auch fern und abstrakt erscheinen im nervenden Schulalltag, beim quälenden Eishockeytraining, den fröhlichen Verwandtenbesuchen. Doch auf einmal ist da: Ivanka. Sie ist neu in der Stadt, zwei Jahre älter als Martin, sie ist die Pionierleiterin und ohne jeden Anflug von Zweifel überzeugt von der guten Sache des Kommunismus. Für sie würde Martin das Kommunistische Manifest auswendig lernen. Um ihr nahe zu sein, wird er zum Musterpionier, der Altmetall sammelt, Ehrenwache vorm Partisanendenkmal schiebt und im lächerlichen Turnhemd für die Massengymnastik bei der Spartakiade trainiert. Einmal, im Kino, berühren sich ihre Ellenbogen. Es ist ein kurzes Glück: Ivanka erwischt ihn, angetrunken, auf einer Party - mit Musik von Abba. Das war es dann mit dem Musterpionierdasein.

Martin Dolejš, der in München lebende Drehbuchautor, hat in seinem ersten Jugendroman erkennbar seine eigene Geschichte verarbeitet. 1980 flohen seine Eltern über Jugoslawien und Österreich in die Bundesrepublik, wie Martins Eltern im Buch. Dolejš erzählt diese Geschichte konsequent aus der Perspektive des pubertierenden Jungen, in dessen Seelenleben die Hormone und die Weltgeschichte, die Abenteuerlust und die Angst vor dem Eltern- und Heimatverlust ein fröhliches Treiben veranstalten. Und das gelingt dem Autor, abgesehen von ein paar klischeehaften Szenen, wirklich gut. Dolejš erzählt mit Humor und Spaß am Turbulenten, ohne dem Klamauk zu verfallen. In der pubertätstypischen Mischung aus kindlicher Naivität und Altklugheit steht Martin staunend vor den beiden politischen Systemen. Er erlebt die Enge und die Verlogenheit des Staatssozialismus, die allgegenwärtige Angst vor der Staatssicherheit - aber auch das Missverhältnis von Fassade und Wirklichkeit im Westen. Die gekachelte Toilette der österreichischen Raststätte erscheint Martin noch als Porzellanpalast - das Fertighaus in der schwäbischen Provinz, wo er vorübergehend bei Freunden der Eltern unterkommt, schon eher wie ein heimischer Plattenbau, nur kleiner.

Martins Bericht von der Reise ins Land der weißen Schokolade beginnt mit einem Schock: Ausgerechnet als alle Hindernisse überwunden zu sein scheinen, führen Grenzer seine Eltern ab. Wie die Geschichte ausgeht und wohin die Sache mit Ivanka führt, muss man selber lesen. Das geht leicht und mit Vergnügen. Für heutige Jugendliche, denen die Welt des Ostblocks oft ferner ist als Neuseeland, gibt es ein Glossar, das erklärt, wer Friedrich Engels war und Wolga auch mal eine Automarke. So viel aber kann man schon verraten: Diese merkwürdige Sprache, in der die Armee Bundisbba heißt und man Dannwammama sagt, wenn man etwas fröhlich beginnen will, hat Martin Dolejš ziemlich gut gelernt. Und der Berufswunsch, der ihn überkam, als die Genossin Lehrerin so kunst- und wirkungsvoll über den bösen Westen berichtete, ist Wirklichkeit geworden: einmal selber lustige Geschichten zu erzählen.

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SZ vom 28.06.2021
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