Billy Joel in Frankfurt:Zartes Zwiegespräch mit der Masse

Billy Joels Songs waren einst Klagelieder aus den Vororten, heute sind sie Schwanengesänge aus einer verlorenen Welt. Jetzt hat er in Frankfurt ein Konzert gegeben und das Waldstadion zur Pianobar gemacht.

Von Andrian Kreye

Billy Joels größte Herausforderung war immer, dass seine Songs, die alle nach Pianobar klingen, auch in einem Stadion funktionieren müssen. Deswegen war es verblüffend, wie im nach einer großen Bank benannten Frankfurter Waldstadion schon mit dem dritten Song "Just The Way You Are" die Illusion entsteht, dass da etwa fünfzigtausend Menschen aus ganz Europa um ein Klavier herumsitzen und sich zu Hause fühlen. Was einerseits damit zu tun hat, dass Joel zwischen 1973 und 1983 ein relativ überschaubares Gesamtwerk an Songs geschrieben hat, die nicht alle zu Hits, aber sämtlich zu Standards geworden sind, und er seit 1993 buchstäblich nichts Neues mehr veröffentlicht hat. Es besteht also gar nicht die Gefahr, dass mittelmäßiges Spätwerk gespielt wird. Andererseits stehen seine Songs für ein Grundgefühl, das sehr viele teilen.

Handwerklich erzeugt Joel diese Massenintimität immer noch mit dem Charme des lounge entertainers, den er für Großveranstaltungen optimiert. Dazu gehört nicht nur, dass er eine Band anführt, die sich perfekt auf seine Dynamik einstellen kann, sondern auch, dass er Witze und Anekdoten erzählt - und dass er das Publikum Songs aussuchen lässt. Diese Fähigkeit hat er sich als Teenager antrainiert, als er mit nächtlichen Auftritten in einer Pianobar, daheim auf Long Island, den Schulabschluss vergeigte, der Lohn seiner alleinerziehenden Mutter reichte einfach nicht. Und später dann, als er in Los Angeles kurz vor seinem Durchbruch ein halbes Jahr lang im Executive Room am Wilshire Boulevard spielte. Wo er dann auch seinen Song "Piano Man" komponierte, mit dem er diesen Durchbruch schaffte und den er am Samstag in Frankfurt als letzten Song vor den Zugaben spielte. Und weil er "Piano Man" schon seit nun 43 Jahren fast immer als letzte Nummer vor den Zugaben spielt, weiß das Publikum auch in Frankfurt, was es heißt, wenn er sich die Mundharmonika umschnallt, mit der er das Leitmotiv spielt.

Was ein Barpianist kann: einen Seufzer aus dem Publikum aufnehmen und umspielen

Es gibt nicht viele Pianisten, die das können. Und weil er ja ausschließlich Stücke aus der Vergangenheit spielt, darf man ihn auch mit der Vergangenheit erklären. Musikalisch ist das eindeutig. 1973, als "Piano Man" erschien, war das "Peak Rock"-Jahr. 1973 wurden aus großen Gesten monumentale Ansprüche. Pink Floyd veröffentlichten das opernhafte Schlüsselwerk "The Dark Side of the Moon", Led Zeppelin erreichten mit "Houses of the Holy" ihren Zenit, und David Bowie zementierte seinen Hyperstarstatus mit "Aladdin Sane". Auf der anderen Seite deutete sich an, dass der Höhepunkt bald überschritten sein würde. Die New York Dolls und The Stooges debütierten als Vorläufer des Punk, der spätere Reggae-Gott Bob Marley veröffentlichte sein erstes internationales Album.

Billy Joel war ein Gegenmodell. Er spielte keine Riffs und Beats, es gab keine Posen, Gesten und schon gar keinen Furor. Seine Songs bauten auf Klaviermotiven auf, wie man sie aus dem Great American Songbook der Zwanziger- und Dreißigerjahre gewohnt war. Den Unterschied hört man sofort, wenn er beispielsweise die Anfangsakkorde für "New York State of Mind" oder für "Always A Woman To Me" spielt. Da geht ein kollektives Seufzen durchs Waldstadion, das er umgehend aufnimmt und die Motive erst einmal variiert, ganz der Bar-Profi, der mit solchen Pirouetten noch ein wenig Zeit schindet, bevor er den Zuhörern das Aha-Erlebnis der Wiedererkennung schenkt. Mit einem Gitarrenriff geht das nicht. Das steht im Raum und bleibt. So aber war der musikalische Zeitgeist von 1973, als Hardrockbands wie Deep Purple, Black Sabbath und Aerosmith die Stadien füllten.

Auf der anderen Seite steht Billy Joel im Widerspruch zum basisdemokratischen Anspruch des Rock, dass Technik und Virtuosität kein Kriterium sein müssen. Man darf sich durch Refrains nicht täuschen lassen, die auch dann noch funktionieren, wenn sie von einem Stadion voller Europäer mitgesungen werden. Wer ein wenig Karaoke-Erfahrung hat, weiß, dass Billy Joels Melodien gerade in den Strophen eine Klippe sind, die man mit einer Amateurstimme nicht nehmen kann. Er selbst hingegen meistert sie übrigens auch mit dem gereiften Tenor seiner 67 Jahre noch mit täuschender Leichtigkeit.

Auch für die Pianobarsentimentalitäten seiner Texte war in der Zeit eigentlich kein Platz. Schon gar nicht für einen, der neben Oden an den Sehnsuchtsort New York sowie Liebesliedern mit sehr traditionellen Geschlechterrollen auch noch Songs über die beklemmende Welt der Suburbia schrieb. "Captain Jack" vom "Piano Man"-Album erzählte beispielsweise die Geschichte des deprimierend ereignislosen Samstagabends eines Jungen, der mit 21 immer noch zu Hause lebt.

Nie so dramatisch wie das Leben der Unterschicht, nie so heroisch wie die Subkultur

"Captain Jack" war der Prolog eines Songkatalogs, in dem sich eine untere Mittelschicht finden konnte, über die sich die Rock- und Popstars immer nur lustig machten. In Frankfurt spielt er sie fast alle: "Moving Out", "My Life", "Uptown Girl" waren Hymnen für die Verlorenen der Suburbia, die zwischen seelenlosen Jobs und bedrückenden Konventionen zwar die Hoffnung aufgegeben hatten, aber trotzdem nicht bereit waren, sich den Gegenkulturen anzuschließen. Dabei erzählte er seine melancholischen Verliergeschichten so direkt, wie man das nur aus dem Country kannte. Wenn er trotzdem mal eine tiefere Wahrheit fand, dann verpackte er sie in schlichte Worte wie in "Captain Jack": "You got everything, but nothing's cool" - "Du hast alles, aber nichts ist cool."

Und nein, cool war Billy Joel nie. Cool verlangt auch niemand im Frankfurter Waldstadion. Die Wiedererkennungsmomente reichen, das Wissen, dass da einer auch kleine Nöte und Ängste in Songs packen kann, die nicht gleich so epische Dimensionen erreichen müssen wie bei Bruce Springsteen, oder gar die Welt erschüttern, wie bei Bob Dylan. Den Gralshütern des Rock war das immer ein Grauen. Robert Christgau von der Village Voice prägte die legendäre Formel, Billy Joel sei "Eine Naturgewalt des schlechten Geschmacks". Bis heute definieren amerikanische Rockkritiker ihre Glaubwürdigkeit mit einem Hass auf Billy Joel, ähnlich wie in Europa die Verachtung für Phil Collins Grundlage des Rocksnobismus ist.

In Amerika aber wissen und im Rest der Welt ahnen sie, dass die weinerliche Selbstgerechtigkeit eines Billy Joel-Songs ein tiefer Ausdruck für die Frustrationen der Suburbia ist, die nie so dramatisch sind wie die Nöte der Unterschichten und nie so heroisch wie die Ideale der Gegenkulturen. Und man spürt immer noch, dass das keine Pose ist. Billy Joel wuchs in der Parade-Suburbia des Nachkriegsamerika auf, in Levittown, einer schmucken Siedlung auf Long Island, gerade mal eine Pendlerzugfahrt und gefühlt doch unüberwindliche Strecke von New York City entfernt.

Das Konzert in Frankfurt war übrigens das erste Stadionkonzert, das Billy Joel je in Deutschland gegeben hat. Überhaupt hat er nach den Jahren der Finanzkatastrophen mit betrügerischen Managern, teuren Scheidungen und den verheerenden Episoden mit seinen chronischen Krankheiten Depression und Alkoholismus gerade einen enormen Alterserfolg. In New York pendelt er beispielsweise jeden Monat einmal von Long Island nach Manhattan, um im Madison Square Garden eine Show zu spielen (er lebt immer noch an der Oyster Bay, allerdings in einem gewaltigen Anwesen auf Centre Island, und pendelt per Hubschrauber). 36 ausverkaufte Konzerte hat er da schon gegeben, ein Ende ist nicht in Sicht.

Sicherlich hat das damit zu tun, dass das Zeitalter des Rock schon vor zwanzig Jahren vom Zeitalter des Pop abgelöst wurde und damit auch die kulturkritische Deutungsgewalt der Rockkritiker verschwand. Es ist aber keine Retroseligkeit, wenn sie in Frankfurt, London und New York Songs wie "Moving Out" oder "My Life" so inbrünstig feiern. Was damals noch das Lamento der Suburbia war, ist heute ihr Schwanengesang. Es sind ironischerweise gerade Frankfurt, London und New York die Städte, in denen die Entscheidungen fallen, die Billy Joels kläglichen Helden noch den Rest ihrer Hoffnung nehmen. Schon 1982, vor mehr als dreißig Jahren, sagte er: "Plötzlich kann man die Lebensqualität seiner Eltern nicht mehr als garantiertes Erbe betrachten." Das war angesichts der bitteren Realitäten Amerikas heute geradezu prophetisch.

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