Neues Album von Billie Eilish "Happier than Ever":Geheimzeichen

Billie Eilish Pressebilder

Queerness, Feminismus, Mode: Ein Teil von Billie Eilishs figürlicher Existenz spielt sich in Twitter-Debatten ab, die von ihr handeln.

(Foto: Universal Music)

Das neue Album von Billie Eilish, 19, ist ein großes Alterswerk. Über "Happier than Ever" und die Frage, warum diese Sängerin so grenzenlos beliebt ist.

Von Joachim Hentschel

Die Sängerin Billie Eilish ist ein Phänomen der Gegenwart, und an der Stelle möchte man doch am liebsten schon wieder zu lesen aufhören. Weil man es eigentlich nicht mehr hören kann.

Phänomen, so hat man in der Tageskulturbeobachtung ja einige Zeit lang all das genannt, von dem man beim besten, blutigsten Willen nicht verstehen konnte, warum es so rasend beliebt ist. Der verrückte Frosch von der Klingeltonfirma, billige, halb verwelkte italienische Vorspeisenbüffets, Sebastian-Fitzek-Hörbucher, natürlich Paris Hilton, die ja quasi die heilige Muttergottes der neuzeitlichen Nichtsnutz-Schockkultur ist - alles typische Phänomene. Populäre Erscheinungen, die sich in Äußerlich- und Vorgängigkeiten erschöpfen und dabei wenig zum spezifischen Gewicht der Kunstgeschichte beitragen. Die auf die Chronistenschar dann aber doch wieder so verunsichernd wirkten, dass eine Rechtfertigung nötig wurde. Eine gut befestigte, mit Steigbügeln ausgestattete Metaebene, um Feuilleton-Aufmacher wie diesen hier schreiben zu können.

Billie Eilish, 19, aus Los Angeles, Sängerin, Songschreiberin, Videoregisseurin, vierfache Grammy-Gewinnerin und einer der derzeit größten, erfolgreichsten Popstars der Welt, ist ein Phänomen. Aber, und das ist ein wichtiger Unterschied: Sie ist das Exempel für eine neue, gegenwärtige Phase der Entertainmentkultur, in der praktisch jede und jeder zum Phänomenen geworden ist. Einer Gegenwart, in der alle, die irgendwie im größeren Umfang in der Pop-Öffentlichkeit stehen, ihre überdimensionalen, zwar nicht ständig, aber sehr regelmäßig flüsternden und Benachrichtungs-Plingtöne produzierenden 3D-Identitäten haben. Vor allem die, deren Kernpublikum die im neuen Jahrtausend geborene Generation Z ist, die wahren Digital Natives. Leider ist die Pointe unausweichlich: Phänomenologisch signifikant wären heute eher die, die überraschenderweise keine Phänomene sind.

Billie Eilish ist also gleichzeitig auch Social-Media-Influencerin, Hashtag, TikTok- und Instagram-Star, Markenbotschafterin, Fotomodell, muss alles in allem eine gigantische Menge an musikferner Content-Produktion leisten, die neben dem Sinnieren über neue Liedtexte erst mal bewältigt werden muss. Ein Teil ihrer figürlichen Existenz spielt sich mittlerweile auch in den Twitter-Debatten ab, die von ihr handeln. Zuletzt ging es da um Fragen wie die, ob sie mit einem "Vogue"-Fotoshooting, bei dem sie körperbetonte Mode trug, eventuell ein repressives Frauenbild multipliziert habe. Und ob sie sich mit einem Video, das einige lesbisch angehauchte Szenen enthält, unangemessen weit an die Queer-Community herangeschleimt habe. Denn jeder weiß, dass Billie Eilish in Wahrheit kein bisschen lesbisch ist.

Der Eröffnungssong des Albums ist eine Schmerzenskonfession - Billie Eilishs "My Way"

Das ganze Vorgeplänkel ist nötig, weil man auch Billie Eilishs Album "Happier Than Ever", den eben veröffentlichten neuen Beitrag zu ihrem musikalischen Kerngeschäft, ohne diesen Kontext nie und nimmer richtig einschätzen kann. Und weil die Künstlerin natürlich selbst auf ihre Vielfachrolle Bezug nimmt, immer wieder im Lauf der 16 Stücke.

"Things I once enjoyed just keep me employed now", sing-raunt oder raun-singt sie gleich in "Getting Older", dem ersten Song. "Things I'm longing for, someday, I'll be bored of." Was früher Spaß war, ist zur Pflicht geworden, und die Sehnsucht von heute ist morgen zum Gähnen. Eine vermeintlich banale Erkenntnis der Adoleszenz, aber Billie Eilish macht daraus, nur vom trägen, dunklen Zeitlupen-Tremolo des Synthesizers begleitet, eine Schicksals- und Lebensbilanzballade von umfassendem Zuschnitt. Man kann das als private Schmerzenskonfession lesen, mit Andeutungen über Missbrauchs- und Stalking-Erlebnisse. Aber zugleich eben auch als höher fliegende Reflexion darüber, was passiert, wenn der jugendliche Furor im Lauf der Jahre einer entspannten, informierten Gelassenheit weicht.

Neues Album von Billie Eilish "Happier than Ever": Billie Eilish singt auf "Happier than Ever" von Hotelzimmeraffären.

Billie Eilish singt auf "Happier than Ever" von Hotelzimmeraffären.

(Foto: Universal Music)

Man könnte auch sagen, dass "Getting Older" nach dem derzeitigen Stand der Dinge Billie Eilishs "My Way" ist. Ihr frühreifes Pendant zum großen, entwaffnenden Lebensbeichten-Song, wie Frank Sinatra ihn erstmals mit 53 sang, was im Showgeschäft der späten 1960er ja schon weit über dem Haltbarkeitsdatum war. Der Gedanke fühlt sich erst absurd an, wird aber immer reizvoller, je länger man sich diese neue Musik anhört: Angesichts der schieren Intensität, mit der die Teenagerin Eilish in den vergangenen rund vier Jahren begleitet, durchleuchtet und in allen Farben repräsentiert wurde, wirkt "Happier Than Ever" wie ein echtes Alterswerk. Sie dürfte die erste Person der Popgeschichte sein, die das mit 19 hinkriegt.

In "Halley's Comet" zum Beispiel schlüpft sie - begleitet von einer kleinen Kapelle, die wie immer von ihrem Bruder und Produzenten Finneas O'Connell im heimischen Hobbystudio kreiert wurde - ins erstaunlich gut passende Abendkleid der mitternachtsblauen Nachtclub-Sängerin, die zwar vom Schmerz der Liebe singt, die poetische Fackel dabei aber fest und souverän in der eigenen Hand behält. Das vielsagend "Billie Bossa Nova" betitelte Stück erzählt die ausgesprochen nach Erwachsenenproblem klingende Geschichte einer verbotenen Hotelzimmeraffäre, auch hier haucht und swingt die Sängerin mit dem langen Atem einer Diva. Den Titelsong, eine Ode an die zwar betrogene, unter dem Umständen aber umso subjektstärkere Frau, der als eine Art Marilyn-Monroe-Filmlied beginnt, lässt sie am Ende dann in ein krachendes Finale münden, bei dem man förmlich zu hören glaubt, wie sich das Publikum in Abendgarderobe auf den Logenbalkonen zum Applaus erhebt.

Es gibt hier und da schon noch deutliche Anklänge an die Spuk- und Alptraumwelten, die verbeulten Blecheimer-Beats, japsenden Rhythmen und auf Linie massierten Störgeräusche, für die Billie Eilishs erstes Album "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" von 2019 so heiß geliebt, reich prämiert und für Verkäufe und umgerechnete Streaming-Zahlen mit schwer vorstellbaren 53 Platinplatten ausgezeichnet wurde. Insgesamt aber dürfte vor allem die Hörerschaft jenseits der 30 "Happier Than Ever" als äußerst erfreuliches Signal werten.

Dass auch Eltern Eilish zu verstehen glauben, ist ein Indiz für die Klasse ihrer Songs

Denn schon als Eilish vor gut zwei Jahren mit den Videos "Bury A Friend" und "Bad Guy" auch die etwas älteren Kohorten erreichte, war dort der Jubel gewaltig. Anders als zum Beispiel der eher erratische K-Pop oder der deutsche Hip-Hop mit seinen ständig wechselnden Geheimzeichen war Billie Eilish eine phänomenale Persönlichkeit, die auch die Generation X sofort zu begreifen glaubte, wenigstens in Grundzügen. Das Gothic-Makabre, die latente Ich-Verzweiflung und die industrielle Ästhetik der Sounds und Harmonien, all das sendete auf ganz ähnlichen Frequenzen wie die Undergroundhelden der Neunzigerjahre, deren Weltschmerz von Mangas, Punk, Horrorfilmen und existenzialistischer Lyrik befeuert war.

Zahllose Mütter und Väter posteten damals stolz in den sozialen Medien, wie sie nun endlich wieder gemeinsam mit den Kindern Musik hören könnten, zum ersten Mal seit "Bibi und Tina" und "Feuerwehrmann Sam". Dass ein solcher Crossover-Effekt ohne allzu grobe Fehlinterpretationen möglich war, darf man gelassen als Indiz für die Klasse und Nachhaltigkeit von Eilishs Songs werten. Das neue Album, auch im anstrengenden Kopfwehalltag als Gebrauchsmusik noch wesentlich günstiger einsetzbar als das letzte, könnte jetzt bei älteren Fans für noch mehr Konsens sorgen. Der Schriftsteller Nick Hornby hat ja die britische Gruppe Radiohead einmal dafür kritisiert, mehr oder weniger im Scherz, dass ihre experimentelleren neuen Platten gestressten, berufstätigen Menschen abends nicht mehr zuzumuten seien. Über "Happier Than Ever" würde er das sicher nicht sagen.

Andersrum gefragt: Könnte Billie Eilish mit diesem eher gedeckten, kaminfeuerwarmen, weniger coolen Album einige ihrer jungen Zuhörerinnen und Zuhörer verlieren? Das ist möglich, wäre allerdings ein grobes Missverständnis. Was die Künstlerin Billie Eilish entscheidend von anderen Songwriterinnen ihrer Generation abhebt, ist die unfassbare visionäre Kraft, die man in ihrer Musik spürt. Ihre Fähigkeit, einerseits aus dem Erfahrungshorizont des Generation-Z-Mädchens heraus zu sprechen, kampfeslustig, mit originärer lyrischer Sprache. Aber dabei einen ästhetischen Blick zu bewahren, der weit über den Generationenhorizont herausreicht.

Auf "Happier Than Ever" baut sie eine Kathedrale aus der eigenen "Teenage Angst". Eine junge Frau mit überaus alter Seele. Es gibt noch viel zu erwarten von ihr.

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