Es ist nicht so, dass der protestinteressierte Berliner am Samstag kein "Angebot" bekommen hätte, wie man das heute nennt. In Neukölln herrscht Intifada-Stimmung, am Brandenburger Tor demonstrieren Menschen gegen schlimme Verhältnisse in Venezuela, Myanmar, Tschad. Vor dem Reichstagsgebäude schwenkt eine Handvoll Reichsbürger schwarz-weiß-rote Fahnen, dazwischen weht, warum auch immer, eine Russlandflagge. Und das ist nur eine Auswahl.
Man könnte sich für eine filigrane Kunstaktion wie jene von Adrian Piper ein ruhigeres Umfeld vorstellen. Aber wenn man die Künstlerin - Plakat auf dem Rücken, Plakat vor dem Bauch - am Bundestag im Schatten der Reichsbürgerfahnen trifft, findet man sie in allerbester Stimmung. Die Passanten seien interessiert und auskunftsfreudig, erzählen von eigenen, oft niederschmetternden Erfahrungen aus ihrer Schulzeit, die deutschen Behörden seien kooperativ, selbst das Wetter sonnig. Einzige Schwachstelle, durchaus selbstkritisch: Beim nächsten Mal müsse man mehr Broschüren mitnehmen. 100 Exemplare seien rasch verteilt, und der Anstecker mit dem Logo allein nicht aussagekräftig genug.
Man kommt tatsächlich nicht ohne Weiteres darauf, dass ein weißes Dreieck auf schwarzem Grund mit der Formel "≤ 15:1" eine Forderung erhebt, die viele mehr umtreiben dürfte als der Tschad. Adrian Piper wirbt für eine radikale Bildungsreform. Keine Klasse, kein Seminar, keine Vorlesung dürfe größer sein als fünfzehn Schüler oder Studierende pro Lehrendem, sagt sie. Das gilt für Rechtschreibübungen an Grundschulen ebenso wie für die Einführungsveranstaltung in Maschinenbau.
Von der Reichsbürgerdemo kommt ein junger Mann mit blondem Zopf herüber. Er war schon mal da
Dieses Fünfzehn-zu-eins-Verhältnis sei Voraussetzung für alle folgenden Bildungsanstrengungen, für bessere Schulgebäude und digitale Infrastruktur, den Schutz und die Einbeziehung von Einwanderer-Kindern, die Förderung des Nichtakademiker-Nachwuchses. Maximal fünfzehn zu eins sei - Piper ist Philosophie-Professorin - die notwendige Bedingung für eine fruchtbare Subjekt-Objekt-Beziehung. Nur so blieben das lernende Subjekt und das lehrende Objekt "voneinander getrennt, aber abhängig" (Kant), könnten Kinder lernen, ihre eigenen Fantasien von der "objektiven Wirklichkeit" zu trennen. Nach der jüngsten Pisa-Studie können 45 Prozent der Schüler in Deutschland in einem digitalen Text Fakten nicht von Meinungen unterscheiden. Piper sieht sich auf ganzer Linie bestätigt.
Zwar sei Bildung "kein Zaubertrank", hat sie ein paar Tage zuvor in einem Mail-Interview an die SZ geschrieben, aber ein "Hilfsmittel gegen Bösartigkeit oder Voreingenommenheit" - ein Hilfsmittel also auch für die Demokratie und gegen die AfD. Wie weit sie ausgreift ins Politische zeigt der Titel ihrer Kunstaktion: " Wahlkampagne". Zentraler Bestandteil ist neben der Formel der Satz "Ohne Bildung ➔ keine Chance ➔ keine Wahl." Diese wundersame Wirkung aber entfalte nur echte Bildung, so Piper, die dem Einzelnen hilft, seine von Vernunft und Kreativität geleitete Wissbegier zu entwickeln und zu befriedigen, nicht aber eine trotz möglicher Schulabschlüsse oder akademischer Grade inhaltsleere, einstudierte "Scheinbildung".
Von der Reichsbürgerdemo kommt - möglicherweise aus vernunftgeleiteter Wissbegier - ein junger Mann mit blondem Zopf herüber. Er war schon mal da. Adrian Piper sagt, sie habe ein aufschlussreiches, durchaus gutes Gespräch mit ihm geführt. Aber dann ist er so schnell wieder weg, dass man ihn gar nicht fragen kann, wie man sich als Verschwörungsfreund in der Performance einer Künstlerin fühlt, die sich zeit ihres Lebens für Vernunft und gegen Ausgrenzung eingesetzt hat, zudem einer "amerikanischen Frau mit anerkannt afrikanischer Herkunft" (Piper über Piper).
Zwei junge Stuttgarter nehmen kurz darauf Anstecker und Broschüre entgegen, möchten aber wissen, welcher Partei oder Organisation Piper angehört. Keiner, sagt Piper, es sei eine Bewegung, damit Politiker den Menschen mehr zuhören. Die beiden Stuttgarter haben nicht den Eindruck, dass die Bewegung in dieser Hinsicht schon sehr viel bewirkt hat. Wie lange es sie denn gebe, die Bewegung, fragen sie. Piper: "Wir fangen heute an." - "Ach, so."
Wenn alles gut geht, möchte sie den Protest am Reichstagsgebäude in ein paar Wochen wiederholen. Bald sollen auch die ersten "Ohne Bildung ➔ keine Chance ➔ keine Wahl"-Banner an weithin sichtbaren Gebäuden wie beispielsweise der Charité hängen.
Adrian Piper lebt seit 15 Jahren in Berlin, sie spricht ein zwar nicht fehlerfreies, aber gewähltes Deutsch. Dennoch ist es natürlich die Frage, ob Deutschland wirklich auf eine amerikanische Künstlerin gewartet hat, und sei es eine der bekanntesten Konzeptkünstlerinnen der Gegenwart, um endlich mal in Sachen Chancenungleichheit und Demokratiesicherung voran zu kommen.
Immerhin kann niemand sagen, Piper wisse nicht, wovon sie redet. Sie hat jahrelang unterrichtet, darunter an der weiblichen Elite-Universität Wellesley College, zu deren Alumni Madeleine Albright und Hillary Clinton gehören. Nicht nur als Studierende, sondern auch als Lehrende hat sie erfahren, wie Studierende nur "gemanagt" werden.
Gerade das Wellesley hat sie überdies verwundet, gemobbt und ausgegrenzt, eine Erfahrung, die sie in ihrem Buch "Flucht nach Berlin" aufgeschrieben hat. Als sie sich 2006, bereits in Berlin, auf einer Liste "verdächtiger Reisender" der US-Behörden findet, beschließt sie, nicht eher in die USA zurückzukehren, bis ihr Name von dieser Liste verschwindet.
Gemessen an ihren frühen Werken arbeitet sie konziser, optisch strenger. Einst lief sie mit Mickey-Mouse-Ballons an ihren Zähnen durch den Central Park oder setzte sich mit einem Taschentuch im Mund in einen Bus. Aber noch immer verraten ihre Installationen oder Gruppenperformances Humor. Vor vier Jahren zeigte der Hamburger Bahnhof ihre erste große Museumsschau in Deutschland, "The Probable Trust Registry: The Rules of the Game #1-3". Auch kein anschmiegsamer Titel, auch eine Aktion, in der die Zuschauer Teil des Werks wurden, denn sie sollten Selbstverpflichtungen zu Hammersätzen unterschreiben wie "Ich werde immer meinen, was ich sage." Die Biennale in Venedig verlieh Piper dafür den Goldenen Löwen.
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Auf die eine oder andere Weise geht es bei Adrian Piper immer um das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe und darum, wie eine Gruppe versucht, den Einzelnen zu vereinnahmen, zu formen oder auszustoßen. Auf einem Selbstporträt von 1981 hatte sie sich einst übertrieben als Afroamerikanerin gezeichnet ("Self-Portrait Exaggerating My Negroid Features"). 2012 wiederum erklärte sie, im Alter von 64 Jahren habe sie beschlossen, alle Zuschreibungen abzulegen. Ihre neue Bezeichnung sei "weder schwarz noch weiß". Mit Blick auf ihre "zu einem Sechzehntel afrikanische Abstammung" wären das "6,25 Prozent grau".
Solche Detailstudien fluider Identitäten gelten in Deutschland als extreme Randphänomene. In der Breite sind bislang nicht einmal die Fragen angekommen. "Richtige" Bildung im Sinne der Künstlerin, Philosophin und Pädagogin Adrian Piper könnte den Lernprozess in dieser Hinsicht deutlich beschleunigen.