Süddeutsche Zeitung

Bildergeschichten:Am Himmel der Mondfisch

"Reise ins Innere der Stadt" versammelt Erzählungen über Tiere als Nachbarn.

Von Thomas von Steinaecker

Dieser Mann ist nicht zu fassen. Shaun Tan, Australier mit malaysischen Wurzeln, arbeitete zunächst als Concept Designer am Zeichentrickfilmmeilenstein "Wall-E" mit und bekam kurz darauf für die Filmadaption seines Bilderbuches "Die Fundsache" einen Oscar; zur selben Zeit veröffentlichte er seine erste und bislang einzige Graphic Novel. Völlig ohne Worte erzählt "Ein neues Land" eine allgemeingültige Geschichte von Flucht und Vertreibung, die sich von Jahr zu Jahr mehr nicht nur als bleibendes Meisterwerk der Neunten Kunst, sondern als geradezu prophetisch für unsere Gegenwart erwiesen hat. 2008 erschien dann ein erster Erzählband mit Illustrationen, "Geschichten aus der Vorstadt des Universums", wofür Tan nach dem Deutschen Jugendliteraturpreis als Krönung auch noch den Astrid Lindgren Gedächtnispreis erhielt, den höchstdotierten Preis für Kinder- und Jugendliteratur.

Shaun Tan - ein Autor für Kinder also? Die Kategorisierung liegt auf den ersten Blick nahe: Die vordergründig süßen Illustrationen sind hübsch anzusehen und die begleitenden Texte mit ihrer bewusst einfachen Sprache schnell zu lesen, noch dazu bevölkert von Kindern, Tieren und Monstern, vor denen sich aber niemand fürchten muss, so knuddelig kommen sie daher. So etwa in der inzwischen zum Klassiker avancierten Kurzgeschichte um den Austauschstudenten "Eric", halb Kobold, halb Ahornblatt, dessen Gastfamilie sich redlich, doch erfolglos müht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, um am Ende, nachdem er genauso plötzlich verschwindet wie er aufgetaucht war, mit dem schwer greifbaren Gefühl zurückzubleiben, beschenkt worden zu sein. Dass es sich dabei um eine ebenso rätselhafte wie brillante Parabel über das Fremde und unseren Umgang damit handelte, konnte man angesichts des hohen Niedlichkeitsfaktors der Hauptfigur leicht vergessen und damit ihren Autor unterschätzen.

Spätestens jetzt sollte sich das ändern. Leider geht in der deutschen Übersetzung der direkte Bezug von Tans zweitem Erzählband, "Tales from the Inner City", auf seinen Vorgänger, im Original "Tales from Outer Suburbia", verloren. Tatsächlich wirkt dieses Buch "erwachsener" als alles, was Tan bisher gemacht hat. Der übermütige Spaß an formalen Spielereien ist einer strengen, ja, man könnte sagen klassischen Komposition gewichen. Alle der 25 nur wenige Seiten langen Texte, die zumeist von einem farbigen Ölbild begleitet werden, handeln von wilden Tieren in der Großstadt. Meistens schon im allerersten Satz und damit schockhaft plötzlich haben sie ihren Auftritt. "Die Krokodile leben im siebenundachtzigsten Stock", heißt es etwa in der ersten Geschichte über die ungewöhnlichen Bewohner einer Hochhausspitze; oder in der zweiten: "Die Schmetterlinge kamen zur Mittagszeit", woraufhin eine geradezu biblische Insektenplage für die Bewohner einer Stadt zu einem Moment der erlösenden Epiphanie wird.

Die Handlungen lediglich als surreal zu beschrieben, greift zu kurz. Immer wohnt ihnen eine tiefe Melancholie inne, eine Unmittelbarkeit des Gefühls, die sich vielleicht am ehesten als zartbitter bezeichnen ließe - Tan war wohl noch nie so todtraurig wie hier. Oder lassen sich berührendere Geschichten denken als jene über den kindlichen Ich-Erzähler im Krankenhaus, der bei seiner Ankunft seine Angst als riesige weiße Eule personifiziert sieht, die auf dem Bett auf ihn wartet - und ihn dann auf einmal tröstet? Oder jenes Gedicht über das Verhältnis von Mensch und Hund durch die Jahrtausende hindurch, über das es heißt "Und als du starbst / brachte ich dich zum Fluss. / Und als ich starb, / wartetest du am Ufer auf mich. / Und so verging zwischen uns die Zeit."

Zweifellos ist es ein Balanceakt, den Shaun Tan hier unternimmt. Tiere als Topos des Unschuldigen, Ursprünglichen sind eigentlich ein alter Hut. Und dann scheut er auch nicht davor zurück, jede Geschichte gut oder zumindest nicht schlecht enden zu lassen. Aber selten wirkt das platt, etwa wenn sich Manager bei einer Vorstandssitzung auf einmal in Frösche verwandeln oder Bären sich Anwälte nehmen, um gegen das durch die Menschen erfahrene Unrecht zu klagen.

Warum aber bewegen all die anderen Geschichten so, ja, rühren zu Tränen? Eigentlich wirkt auch das Genre, für das sich Tan hier entschieden hat, die Parabel, normalerweise schnell unsubtil und mit ihrer mehr oder weniger zivilisationskritischen Botschaft nicht unbedingt originell. Und trotzdem geht von diesem Buch ein Zauber aus, staunt man über den Einfall eines schwebenden, nur von Tauben bewohnten Hochhauses, das für die Bewohner der Stadt zum Traumschloss wird; kuschelt man sich zusammen mit Büroangestellten in das Fell des weißen Riesen-Yaks, das sie abends zurück nach Hause trägt; oder guckt zum Himmel, wohin sich in einem der schönsten Texte des Bandes nach einer Katastrophe die Fische gerettet haben; eines Tages "angelt" ein Junge von dort einen seltenen Mondfisch herunter und will ihn vergeblich einem mysteriösen Händler verkaufen. Der Tod des kostbaren Wesens war umsonst. Doch wie so oft gönnt Tan seinen Figuren und damit uns ein Happy-End: Wieder daheim, sind aus den Eiern des Fisches winzige Tiere geschlüpft, die wie Sternschnuppen in den Himmel steigen.

Genauso wie die Öl-Illustrationen, die zwischen europäischem Surrealismus und australischer Dreamtime changieren und doch einen großen Anteil an der hypnotischen Wirkung des Buches haben, kann man das gesamte Vorhaben Tans als naiv bezeichnen. Als kitschig. Als riskant. Denn es sind äußerst zarte, ja zärtliche Gebilde, die Tan hier entwirft und für die er eine eigenwillige, nicht leicht zu übersetzende, mäanderende Sprache gefunden hat, die am ehesten mit einem Prosagedicht vergleichbar ist, so zum Beispiel, wenn er abschließend den Menschen während einer archäologischen Ausgrabung beschreibt: "Wir plappern und plappern auf unsere Affenart, und die schwarzen Steinblätter fallen mit jedem Tocktock-tock unserer Hämmer so perfekt auseinander wie Seiten in einem alten Buch, eine Freude, für die kein Wort je erfunden war."

Ist das nun Kinder- oder Jugendliteratur? Oder ein Bilderbuch für Erwachsene? Das ist vor allem eines: egal. Shaun Tan erweist sich in diesem Gesamtkunstwerk aus Bild und Text als universaler Erzähler, dem etwas überaus Seltenes und Kostbares gelingt: über der düsteren Landschaft der Katastrophen unserer Zeit die Utopien hell leuchten zu lassen, auf dass wir nicht den Glauben an sie verlieren.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2018
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