Bilderbuch:Die mit dem Hai tanzen

Bilderbuch: Illustration aus Nikolaus Heidelbach: Marina

Illustration aus Nikolaus Heidelbach: Marina

Nikolaus Heidelbach lässt in seiner Bildergeschichte "Marina" Raum für Träume

Von Karin Gruss

Wir haben sie am Strand gefunden, mein großer Bruder und ich. Wir haben sie zu uns nach Hause gebracht. . . Wir nannten sie Marina." Das fremde Mädchen aus dem Meer bekommt ein eigenes Bett, ein eigenes Zimmer, Essen und Trinken und jede Menge Aufmerksamkeit auch von einer Polizistin, aber die um Ausgleich bemühte Mutter "konnte sie beruhigen".

Marina kann gut zuhören, deshalb lernt sie rasch die neue Sprache. Sie, die aus dem Meer kommt, erzählt "wie ein Wasserfall" von ihrer königlichen Familie dort unten und mit ausladenden Gesten von einer traumhaften Unterwasserwelt mit "Schloss im Park und Swimmingpool und einer Achterbahn mit Wasserautos".

Ohne Zweifel jedoch plädiert Nikolaus Heidelbach wie gewohnt für Fantasie als rettendem Ort.

Nikolaus Heidelbach, dem wir so manche bildgewaltige Märcheninterpretation zu verdanken haben, nimmt seine Bildleser mit auf eine fantastische Reise über den Meeresboden: In einem schimärenhaften Garnelenboot gleitet das stolze Königspaar über ein zauberhaftes Schloss mit Muschelschneckentürmen, vorbei an sieben Meermädchen, die mit dem Hai tanzen, und mitten durch eine Achterbahn in Kannenpflanzen ähnlichen Scootern, die auf jedem Jahrmarkt Aufsehen erregen würden. Das Meer Ursprung des Lebens hat als romantische Kulisse ungetrübter Urlaubsträume längst ausgedient. So wundert es nicht, dass Nikolaus Heidelbach sich nicht scheut - adressiert an erwachsenes Vorwissen - im Innentitel an den ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi zu erinnern. Dennoch bewahrt der Künstler in "Marina" ein konsumverseuchtes Meer auch als Ort der Träume, als Märchenwelt und emotionales Refugium, als Quell für Widerstandskraft und Überlebenswillen. Traum oder Trauma? Der Künstler lässt die Deutung in der Schwebe. Ohne Zweifel jedoch plädiert er wie gewohnt für Fantasie als rettendem Ort. Wann war uns dieser je notwendiger als jetzt? Fantastische Welten als Rückzugsort werden gerne als Realitätsflucht diffamiert. Wer wachen Auges mit Kindern lebt, weiß auch vom Gegenteil. Das Mädchen Marina ist zu keiner Zeit Opfer. Ausgestattet mit Braids-Frisur und deutlichem Stolz auf ihre Herkunft weiß sie sich nachdrücklich gegen eine rassistische Beleidigung zu wehren. Diese Geschichte einer Flucht ist auch eine des Ankommens. Heidelbach lässt Raum für eigene Träume, Ängste und Wünsche. Dementsprechend überrascht er uns mit einem offenen Schluss, der keineswegs das Ende bedeutet, sondern einen neuen Anfang setzt. Ein Plädoyer für Fantasie, das kritisch Stellung bezieht und gleichzeitig Wege für freie Entscheidungen aufzeigt.

Nikolaus Heidelbach: Marina. Beltz & Gelberg 2022. 32 Seiten, 15 Euro.

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