Süddeutsche Zeitung

Bilderbuch:Sehnsucht nach der Tiefe

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Ein Wal im Garten darf schon mal mürrisch sein

Von Ulrike Schultheis

"Ich arbeite am liebsten mit verschiedensten Drucktechniken, Collage, Frottage, aber auch mit Farbstiften und Tusche, experimentiere mit verschiedensten Materialien und Techniken", sagt die Schweizer Illustratorin Sabine Rufener . "Und ich liebe die Verbindung von Text und Bild, die verschiedenen Ebenen, die jede gute Geschichte hat. Charaktere zu erfinden, ihre Schrullen und Besonderheiten zu entdecken ist ein unglaublicher Prozess, bei dem Text und Bild sich immer wieder gegenseitig beeinflussen." Wie sehr ihr dieses Zusammenspiel gelungen ist, beweist sie schon in ihrem ersten Bilderbuch "Der Wal im Garten", ihrem Abschlussprojekt an der Schule für Kunst und Design in Zürich.

Eines Morgens entdeckt die kleine Lille, die mit ihrer Oma in einem Haus mit großem, verwilderten Garten lebt, einen riesigen gestrandeten Wal, der den ganzen Garten platt gemacht hat und Lilles Fahrrad noch dazu: "Und da wusste sie, dass sie heute zu spät zur Schule kommen würde."

Wie soll das alles nur weitergehen, denn der Wal beginnt unaufhörlich zu schrumpfen

Dieser monströse Wal ist auch nicht freundlich und weise, wie das in den meisten Bilderbüchern der Fall ist, sondern mürrisch, eigensinnig, schlecht gelaunt und stets beleidigt oder vorwurfsvoll. Seine missliche Lage scheint ihn nicht zu stören, er beantwortet keine der drängenden Fragen, die Lille an ihn stellt, und trotzdem verrät er ein paar Details aus dem Leben in der Tiefsee. Lille ist fasziniert von dem seltsamen Tier, und trotz seiner ständigen Nörgeleien beginnen die beiden, sich langsam anzunähern. Freundschaft kann man das nicht nennen, aber gegenseitigen Respekt. Wie soll das alles nur weitergehen, denn der Wal beginnt unaufhörlich zu schrumpfen. Nicht, weil er zu verhungern oder auszutrocknen droht, sondern aus Sehnsucht nach dem Meer. Als er schließlich so klein ist, dass er in Lilles Eimer passt, trägt sie ihn zurück in sein nasses Element. Trotz aller Erleichterung, dieses mürrische Monster endlich los zu sein, bleibt auch ein wenig Wehmut zurück.

Im Gegensatz zu dem pragmatisch-knappen Text, der manchmal ins Philosophische abdriftet, sind die Bilder von großer Ausdruckskraft und Tiefe. Die verschiedenen Techniken auf den großflächigen, meist in dunklen Farben gehaltenen Doppelseiten mit ein paar hellen, farblichen Akzenten, geben ihnen eine leicht surreale, fantastische Wirkung. Durch den groben schwarzen Strich schleicht sich auch ein wenig Düsternis ein, die aber immer wieder von dem lakonischen Text und der unerschrockenen Schlagfertigkeit der kleinen Lille abgemildert wird. (ab 5 und für Sammler)

Sabine Rufener: Der Wal im Garten. Kunstanstifter Verlag 2021. 34 Seiten, 22 Euro.

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