Bilderbuch:Der Junge mit der goldenen Krone

Bilderbuch: Illustration aus Jens Thiele: Konrads Traum.

Illustration aus Jens Thiele: Konrads Traum.

Selbstfindung und Autonomie - Jens Thiele führt seinen Protagonisten in "Konrads Traum" in eine fremde, verlockende Unterwelt ohne Eltern.

Von Karin Gruß

An diesem Morgen fühlte sich Konrad groß und stark. Er hätte Bäume ausreißen oder Kühe über die Wiese jagen können." Der Junge entscheidet sich gegen das vertraute Umfeld mit Weiden und Wegen und folgt einer spontanen "Lust, den Wald zu erkunden, der sich am Ende der Wiese öffnete." Mit einer kunstvoll gebauten Papiertheaterbühne lässt Jens Thiele uns in das Dickicht von Bäumen und Sträuchern, Licht und Schatten schauen, hinter dem das tatendurstige Kind schon verschwunden ist. Noch schwankend zwischen der Faszination der unbekannten Umgebung und dem elterlichen Gebot, sich nicht ohne Erlaubnis vom Haus zu entfernen, fällt Konrad Hals über Kopf in einen Abgrund. "Er hatte Mühe, sich dort unten zurechtzufinden." Die Augen vor Staunen und schaurig-schönem Schrecken geweitet, tastet sich der Junge durch eine ihm fremde, verlockende Unterwelt. "Wie verwirrend, wie merkwürdig und schön! So ein Haus hatte Konrad noch niemals betreten."

Thiele erzählt in Konrads Traum eine Episode in der Entwicklung eines Jungen hin zum Erwachsenwerden. Der Weg zu Autonomie geht zwangsläufig über die Verletzung von Regeln. Konrad plant und entscheidet ganz eigenständig, den vertrauten Hof mit den Kühen gegen das unkalkulierbare Abenteuer des Waldes einzutauschen. Der Lohn der Angstlust ist eine Welt voller Magie und Schönheit: "Es leuchtete und funkelte an allen Ecken. Trug er etwa eine goldene Krone?" Und während die Familie ängstlich nach dem Kind sucht, wächst und reift in seiner Welt der Junge an wundersamen Begegnungen. Hell erleuchtete Räume, ein Korb mit Blumen, ein gedeckter Tisch - sparsam setzt Thiele die Verheißungen eines sich erfüllenden Lebens. Man muss nicht Sigmund Freud bemühen, um in der Begegnung des Jungen mit sich selbst den Schlüssel zur Selbstfindung zu erahnen. "Im Spiegel sah ihn der Junge mit der goldenen Krone lange und freundlich an." Immer noch Kind, verspürt Konrad in der Traumwelt auch Verlust und Verantwortung. "Er fragte sich, ob seine Eltern ihn vermissen und nach ihm suchen würden, stellte sich vor, wie seine Eltern und Geschwister gemeinsam am Tisch saßen. Und ein Platz war leer." Konrad weiß nun, wo sein Platz ist. "Unser kleiner Konrad ist hier! Warte dort unten, wir kommen zu dir!", rufen die Suchenden ihm zu. Sie werden einem vertrauten und doch fremden Menschen begegnen.

Thieles Collagetechnik findet in dieser Bilderbuchgeschichte eine stimmige Verbindung von Form und Inhalt. Die fein geschnittenen und dann wieder grob gerissenen Hochglanzpapiere, mit denen er arbeitet, bilden als Versatzstücke den sich verändernden jungen Menschen ab. Vergleicht man das Konterfei des scheu wirkenden Jungen auf dem Cover mit dem des zurückgekehrten Konrad, kann man dort das Erlebte in seinem Gesicht deutlich ablesen.

Jens Thieles Botschaft, dass das Bilderbuch längst das Kinderzimmer verlassen hat, findet in Konrads Traum einen überzeugenden Beweis.

Jens Thiele: Konrads Traum. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2019. 32 Seiten, 16 Euro.

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