"Bildbuch" im Kino:Die Blumen zwischen den Gleisen

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Jean-Luc Godard bastelt in seinem Filmessay "Bildbuch" weiter an seinem Lebensprojekt einer Geschichte des Kinos. Und erzählt gleichzeitig vom desaströsen Zustand der Welt.

Von Philipp Stadelmaier

Ein Filmstreifen windet sich zwischen zwei Spulen heraus, er scheint vor Farbe zu brennen und direkt aus dem blubbernden Reagenzglas eines Alchemisten zu kommen. Das Meer schimmert tiefblau, in den Kronen der Wellen spiegelt sich der grüngelbe Himmel. Dann sind wir plötzlich bei hartkantigen Schwarz-Weiß-Bildern, die verschrammt und zerkratzt wirken. Ein Bild zittert, als hätte ein Videoband angehalten und würde zwischen zwei Bildern hin- und herspringen. Gleich darauf trägt ein Pinsel satte, klare Farbe auf eine Leinwand auf.

Hier ist jemand zu Gange, der digitale Videoschnitt- und Farbkorrekturprogramme wie ein Maler benutzt. Wer braucht bei solch starken Impressionen noch eine "Handlung", eine "Geschichte", die erzählt wird? Fragmente der Filmgeschichte, von Nicholas Ray über Roberto Rossellini bis hin zu Steven Spielberg, werden collagiert mit Archivmaterial, Gemälden der Kunstgeschichte, Literatur, Musik. Alles verbindet sich auf freie, essayistische Art, jedes Streben nach Perfektion wird unterlaufen. Der Ton springt, ist mal weg und kommt zurück, auch das Bildformat ist immer mal verzerrt, um dann in die richtige Form zu springen. Nichts ist jemals fertig, alles im ständigen Werden.

Es ist diese dahinfließende Schönheit, die Jean-Luc Godards neuen Film "Le Livre d'image / Bildbuch" auszeichnet, der beim letztjährigen Filmfestival in Cannes im Wettbewerb lief und dort mit einer Sonder-Palme ausgezeichnet wurde. Begleitet werden diese Bild-Ton-Kompositionen von Godards Stimme, die literarische, philosophische und politische Einlassungen von sich gibt. Neben der untertitelten Originalfassung bringt der deutsche Verleih Grandfilm noch eine zweite Fassung ins Kino, in der Godard seine Kommentare auf Deutsch einspricht, mit französischem Akzent. Ein großes Glück in einem Land, in dem gerne alles synchronisiert wird, originale Stimmen ausgelöscht werden. Auf diese Weise kann man nun quasi zwei neue Godard-Filme entdecken.

Das erste Bild des Films zeigt einen nach oben deutenden Finger und das nächste ein Schnittpult, an dem zwei Hände mit einem Filmstreifen arbeiten. "Da sind die fünf Finger", raunt dazu die Stimme, "und sie formen die Hand. Und mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen." Der Satz stammt vom Schweizer Philosophen Denis de Rougemont und kündigt Godards Programm an. Hier soll in einem Film und mit Film gedacht werden. Und zwar mit den Händen, das heißt: qua Montage. Montage, das (manuelle) Arrangieren von Bildern und Tönen, wird zum Akt der Reflexion. Das war für Godard schon immer so.

Godards Filme sind immer auch Remakes der Werke anderer Filmemacher

Erst war er eine Ikone der Nouvelle Vague, mit "Außer Atem" und "Die Verachtung", später ein militanter Filmemacher. Er fing an, mit Videotechnik zu experimentieren und wie ein Wissenschaftler mit Bildern und Tönen zu untersuchen, was Bilder und Töne überhaupt sind. Um zuletzt dazu überzugehen, an einer Filmgeschichte in filmischer Form zu basteln.

Auf dieses Vorhaben verweist der Finger am Anfang. Es handelt sich um ein Detail aus Leonardo da Vincis "Johannes der Täufer" und zierte einst die Erstausgabe eines Buches von 1947: "Das imaginäre Museum" von André Malraux. In diesem erzählte der französische Politiker und Kunsthistoriker die Geschichte der Formen in der Kunst nicht nur in einem Text, sondern auch visuell, anhand von fotografischen Abbildungen der Kunstwerke. Wie Malraux hat Godard in seinem Opus Magnum, der viereinhalbstündigen Videoserie "Geschichte(n) des Kinos" (1988 bis 1998), die Geschichte des Kinos mit den Mitteln des Kinos selbst erzählt, mit Fragmenten der Film- und Kunstgeschichte. In "Bildbuch" setzt er dieses Projekt fort.

Godard ist ein Kinohistoriker, der immer wieder auf den Bildvorrat der Filmgeschichte zurückgreift. Dabei zeigt er auch den unbegrenzten Möglichkeitsspielraum, in dem Bilder und Töne immer neue Kombinationen eingehen können. Zuletzt hatte er mit "Adieu au langage" (2014) einen Film in 3-D vorgelegt und dabei Montagen erfunden, die man so noch nie gesehen hatte, auf dem linken Auge sah man manchmal ein anderes Bild als auf dem rechten. Godard ist mittlerweile 88 Jahre alt, aber er verkörpert noch immer die Frische und Jugend des Kinos.

Für Kenner von Godards Schaffen wird deutlich, dass er in "Bildbuch" vor allem auf die "Geschichte(n) des Kinos" zurückkommt, bestimmte Elemente oder ganze Sequenzen wieder aufgreift und in neue Zusammenhänge stellt. Vor allem im ersten der fünf Kapitel, in die dieses "Bildbuch" eingeteilt ist und das den Titel "Remakes" trägt. Hier montiert Godard Ausschnitte aus Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau und Nicholas Ray mit Ausschnitten aus seinen eigenen Filmen. Kaum ein anderer Filmemacher hat ein so großes Bewusstsein der Filmgeschichte wie Godard - seine eigenen Filme sieht er immer auch als "Remakes" der Filme anderer Filmemacher.

Die Welt erstickt am Wissen, sagt Godard, und es gibt kein Ohr, das ihr zuhört

Die nächsten Kapitel tragen literarische Titel wie "Die Abende von Sankt Petersburg", "Diese Blumen zwischen den Gleisen, im wirren Wind der Reisen" und "Der Geist der Gesetze". Hier geht der Film zunehmend ins Politische. "Der Krieg ist da", erklärt Godard mit zitternder Stimme. Er ist in der Welt und in den Bildern der Welt, in denen sich eine endlose Vernichtung alles Lebenden vollzieht. Schlachten, Gemetzel, Exekutionen und der "Geist" der Gesetze, der nur all zu oft jeder Gerechtigkeit zuwiderläuft. Godard erzählt nicht nur eine Geschichte des Kinos, sondern auch eine Geschichte der Grausamkeiten des 20. und 21. Jahrhunderts.

Am spannendsten ist das fünfte Kapitel, "Die Zentralregion". Es ist der Titel eines berühmten Experimentalfilms von Michael Snow, aber Godard verwendet ihn auf seine Weise. Die zentrale Region der Welt und der Bilder, scheint Godard zu sagen, ist heute die arabische Welt. Hat er in seinen "Geschichte(n) des Kinos" vor allem die Geschichte des europäischen, amerikanischen und russischen Kinos erzählt, so weitet er nun den Fokus aus.

Eine Szene aus Roberto Rossellinis "Paisà" (1946), in der Partisanen am Ufer eines Sees ermordet werden, vergleicht er mit Videos des "Islamischen Staates", die ähnliche Gräuel zeigen. Vor allem kritisiert Godard den okzidentalen Blick auf den Osten. Der Westen interessiere sich nur für den politischen Islam, aber nicht für die arabische Welt als solche. Die zeigt er hier, in Ausschnitten und Amateuraufnahmen aus dem Internet. In der ganzen Gewalt, die sie prägt, aber auch in ihrer Pluralität, im Reichtum ihrer Geschichte und Kultur.

Die Welt erstickt am Wissen, sagt Godard, und es gibt kein Ohr, das ihr zuhört. Godard hingegen schaut und hört genau hin. Er weiß, dass die Welt zu chaotisch ist, um gerettet werden zu können - schon gar nicht durch einen Film. Aber das Kino kann sich des Chaos annehmen, es in ein "Bilderbuch" eingehen lassen. Das größte Buch aller Bücher ist das Kino, weil es alle anderen Künste und Medien vereinen kann. Es ist ein einziger, großer, unendlicher Text, der immer weiter ausgelegt und fortgeschrieben werden muss. Sein treuester Kommentator ist Jean-Luc Godard.

Le livre d'image , Schweiz/Frankreich 2018. - Regie und Buch: Jean-Luc Godard. Kamera: Fabrice Aragno. Grandfilm, 84 Minuten.

© SZ vom 04.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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