Bildband:Vor den Hintertüren New Yorks

Extra Weegee

Foto: Hirmer Verlag

Im New York der Vor- und Nachkriegszeit hörte der Fotoreporter Weegee Polizeifunk, fuhr zu Tatorten, knipste und entwickelte Filme - bevor die Beamten eintrafen.

Von Jörg Häntzschel

"Blende 8 und da sein", antwortete der legendäre New Yorker Fotoreporter Weegee immer, wenn man ihn nach seiner fotografischen Technik fragte. Da sein war nicht schwer, weil er den Polizeifunk abhörte und also wusste, wenn sich an der Upper East Side wieder ein Auto um den Hochbahn-Masten gewickelt hatte, wenn in Little Italy ein Mafia-Boss erschossen auf der Straße lag, wenn in Harlem eine Wohnung voller kleiner Kinder in Flammen stand. Doch viel entscheidender an seiner Arbeit, das zeigt ein Band im Hirmer Verlag mit bisher unbekannten Aufnahmen, war etwas anderes: Sein Gespür für die rohen Emotionen der Stadt, die er nicht so sehr abbildete, als direkt in seine Bilder leitete, die so chaotisch und dreckig sind wie die Stadt selbst. Manche sehen aus, als habe sie Weegee in der Gosse aufgelesen. (Weegee: "Extra!" Herausgegeben von Daniel Blau. Hirmer Verlag, München 2017. 336 Seiten, 49,80 Euro.)

Weegee, der eigentlich Ascher Fellig hieß und 1899 in der heutigen Ukraine geboren wurde, schlug sich lange mit Jobs in Fotolaboren durch, bis er 1935 seine Karriere als Reporter zündete. Seine Schamlosigkeit, sein Geschmack für alles Krasse und die Legende, er sei oft noch vor der Polizei am Tatort, wurden Teil eines kultivierten Mythos'. "Photo by Weegee, the Famous", stempelte er auf die Rückseite seiner noch im Auto entwickelten Bilder. "Ein Scheck von Life: Zwei Morde, 35 Dollar. Life zahlt fünf Dollar pro Kugel. In einer Leiche steckten fünf Kugeln, in der anderen zwei", schrieb er in seiner Autobiografie.

Natürlich begeisterte sich Weegee für zerfetzte Autowracks oder für die Feuerwehrleute, an deren Helmen und Uniformen das Löschwasser Eiszapfen gebildet hatte. Sehr gerne blitzte er auf verhaftete Gangster und die Spuren ihrer Verbrechen. Doch meistens richtete er die Kamera weniger auf das eigentliche Geschehen als auf die elektrische Spannung, die es bei den Schaulustigen erzeugte, an denen es im überfüllten New York nie mangelte. Und wenn es gerade keinen Verunglückten zu sehen gab, dann fotografierte Weegee die Massen, wie sie sich um rationiertes Fleisch, Benzin oder Nachrichten vom Krieg drängten oder um einen Platz im Freibad. Oder wie die Fans auf diesem Bild, die im April 1943 im allerletzten Moment doch noch Karten für ein Jimmy Dorsey-Konzert ergattert haben.

Weegee pfiff auf Objektivität ebenso wie auf die eigene Unsichtbarkeit. Während vornehmere Zeitgenossen wie Henri Cartier-Bresson die neuen, kleinen Kameras nutzten, um unbemerkt zu fotografieren, das Menschliche also noch ohne die mediale Verfälschung aufzuzeichnen, lenkte Weegee die Blicke gerne auf sich. Er liebte es, als unsichtbarer, aber sehr präsenter Regisseur in den von ihm dokumentierten Situationen mitzuwirken. Deshalb grinst ihn ein Gefangener frech aus der Zelle an. Und als 1945 der Sieg über die Deutschen gefeiert wurde, strahlen ein paar Hundert New Yorker direkt in seine Linse.

Während Cartier-Bressons Meisterschaft darin bestand, den moment decisif festzuhalten, den Sekundenbruchteil, in dem ein Geschehen kristalline Klarheit und Expressivität erlangt, störte Weegee sich ebenso wenig an verwackelten Aufnahmen wie an entgleister Mimik seiner Protagonisten. In seinen Menschenmengen gibt es immer ein paar, die von einem Ereignis offenbar nicht berührt sind, die grinsen, wenn die anderen Tote betrauern, die verstört zu Boden sehen, wenn alle feiern.

Dass Weegee diese Störer in seinen Inszenierungen zuließ, macht seine Bilder so modern. So triumphiert in einer Welt von sensationslüsternen, primitiven Impulsen folgenden Massen am Ende immer doch die Freiheit.

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