Bildband über Jacques Tati:Verteidigung der Außenseiter

Leidenschaftliche Detailbesessenheit und ein Kilo Tomaten: Eine fünfteilige Bildbandreihe widmet sich dem Leben und dem Werk des französischen Kinogenies Jacques Tati und seiner Liebe zu den Menschen. Inklusive der kompletten Drehbücher.

Von ALEX RÜHLE

Das Auto, in dem Monsieur Hulot 1953 in seine Ferien und in die Filmgeschichte fuhr, wurde zunächst mal minutiös gecastet. Mehrere Mitarbeiter von Jacques Tati mussten tagelang in Paris Wagen aus den Jahren 1930 bis 1935 fotografieren, Briefe gingen raus an die französischen Autofirmen mit Bitten um Fotos zu Cabrio-Sondermodellen aus dieser Zeit, schließlich, so Tati, komme diesem Auto "eine der Hauptrollen im Film" zu. Am Ende entschied er sich dann für einen Salmson AL3 von 1925 - der aber anschließend nach genauen Vorgaben (Rückspiegel in Form eines Handspiegels auf dem Schutzblech des linken Vorderrades) umgebaut und ergänzt wurde.

Seine Filme sind Gesamtkunstwerke: Jacques Tati kümmerte sich um alles selbst. Drehbuch, Regie, Hauptrolle, Produktion ja sowieso. Aber auch für die Dekors, Kostüme und sogar die Musik gab er derart genaue Anweisungen, dass der Komponist Charles Dumont sagte, im Grunde habe er die Musik für "Traffic" nicht selbst komponiert, "ich hab mich eher wie sein musikalischer Sekretär gefühlt". An der Tonspur für "Playtime" arbeitete Tati neun Monate lang; in einer mehrseitigen eng bedruckten Liste mit "Gegenständen für Studiogeräusche" zu "Mon Oncle" forderte er unter anderem einen Kubikmeter Kies an, ein Kilo Tomaten, einen großen Kühlschrank und Geldmünzen in einer Kupferschale.

Tati - aus dem Bildband "The Definitive Jacques Tati" © Taschen Verlag

Jacques Tati kümmerte sich um alles selbst: Drehbuch, Regie, Hauptrolle, Produktion

(Foto: Taschen Verlag)

"The Definitive Jacques Tati" passt gut zu dieser monomanisch genauen Sorgfalt des französischen Regisseurs. Ein fünfbändiger Schuber, herausgegeben von der amerikanischen Fotografin Alison Castle, die für den Taschen-Verlag schon mehrere Gesamtwerkbände in Cinemascope kompiliert hat ("Stanley Kubrick Archiv"). Castle durfte sich hemmungslos aus Tatis Nachlassarchiv bedienen, die kompletten Drehbücher sind genauso enthalten wie 400 Seiten Filmstills und ein Band mit dem Titel "Tati Works", eine Lebensbiografie entlang seiner Filme, die mit enorm vielen Fotos zu den Dreharbeiten und einigen Bildern aus seinem Privatleben angereichert wurde. Dass sich in diesen Bänden einiges an Zitaten und Fakten wiederholt, ist bei insgesamt fast 1200 Seiten wahrscheinlich kaum zu vermeiden.

Er streunte oft stundenlang durch die Stadt, schaute den Menschen in ihrem Alltag zu

Am interessantesten aber sind die beiden schmalen Bände, "Tati Speaks" und "Tati Explores". Der eine enthält Interviews und Texte, in denen Tati aus seiner Werkstatt erzählt, der andere Aufsätze zu Musik, Architektur, Choreografien (Tati kam ja von der Pantomime her und hat noch die Gesten und Gänge des letzten Statisten in komplizierten Vektorzeichnungen genau festgelegt) oder auch zum speziellen Humor seiner Filme: Stéphane Goudet arbeitet heraus, dass Tatis situative Witze oft drei, vier Pointen hintereinander beinhalten. Oder dass sein Humor oft elliptisch funktioniert, man also als Zuschauer sich den Kontext erst selbst zusammenfügen muss. In "Playtime" schmuggelt er in einen banalen Dialog zwischen einem Straßenkehrer und einem Fußgänger das Wort U-Boot ein und man kann dann die folgenden Minuten überlegen, wie um alles in der Welt diese beiden Menschen mitten in den Hochhausschluchten von Paris auf dieses Thema gekommen sein mögen. Genau mit dieser Anspielungsästhetik hängt auch zusammen, dass Tati kaum mit Großaufnahmen arbeitete ("Ich mag nicht so gern ausbuchstabieren", sagte er mal zu einem seiner Kameramänner). Im Gegenteil: "Playtime" drehte er auf 70 Millimeter und versuchte jeweils so viele Situationen auf einmal in diese Großaufnahmen zu packen, dass man sich als Zuschauer entscheiden muss, welchem Faden man denn nun folgt - im Grunde so wie im Leben. Bei der Uraufführung von "Traffic" installierte er über dem Kinoeingang statt eines Plakats einen riesigen Spiegel, der den vorbeifließenden Verkehr auf den Champs-Élysées reflektierte. Passend dazu sagte er mal: "Ich möchte, dass mein Film eigentlich erst beginnt, wenn Sie das Kino verlassen."

Was diesen knapp 1200 Seiten aber am Ende dieselbe warme Hintergrundstrahlung gibt wie seinen Filmen und allem Anschein nach auch dem 75-jährigen Leben von Jacques Tati: Seine Zuneigungsfähigkeit. Tatis Regiekollege Claude Chabrol schaute seine Zeitgenossen an wie ein Insektenforscher, distanziert, kalt, mit sezierendem Blick für die ekelhaften Seiten dieser Wesen. Tati war ebenfalls passionierter Menschenbeobachter, er ging oft stundenlang durch die Stadt, schaute den Menschen in ihrem Alltag zu, nannte das "permanente Recherche" und sagte, in seinen Filmen schaue er das Leben an, "als sei die Kamera ein Nachbar, der interessiert zusieht." Das Besondere an seinem situativen Spott ist, dass er darin nie diffamierend war, sondern, ganz wie es sich für einen guten Nachbarn gehört, immer auf Seiten seiner Protagonisten stand. "Das moderne Leben ist gemacht für die Klassenbesten", sagte er mal, als es um die Zivilisationskritik in seinen Filmen ging. "Ich würde gerne alle anderen verteidigen."

Tati - aus dem Bildband "The Definitive Jacques Tati" © Taschen Verlag

Das Auto, in dem Monsieur Hulot 1953 in seine Ferien und in die Filmgeschichte fuhr, wurde minutiös gecastet.

(Foto: Taschen Verlag)

Alison Castle (Hg.): The Definitive Jacques Tati. Schuber mit fünf Bänden. Taschen Verlag, Köln 2019. 1136 Seiten, 185 Euro.

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