Bildband über Annie Leibovitz:Träumen im Superlativ

Bildband über Annie Leibovitz: Cate Blanchett als Venus

Cate Blanchett als Venus

Annie Leibovitz als Sumo-Bildband, der "Königsklasse der Coffee Table Books": Angesichts ihrer Porträts von Carl Lewis in High Heels oder Whoopi Goldberg in der Wanne glaubt der Betrachter, die Welt zu kennen. Ein spektakulärer Irrtum. Aber faszinierend.

Von Gerhard Matzig

Zweitausend Euro für ein Buch, das kein Original der Gutenberg-Bibel ist? Das einfach nur ein - beziehungsweise nicht einfach, sondern: ein aufwendig gestalteter - Bildband der amerikanischen Fotografin Annie Leibovitz ist? (Okay, es ist, so der Verlag, Taschen, natürlich "die größte Porträtfotografin der Welt".) Und das ist insofern sogar ein Schnäppchen.

Oder sagen wir so: Die "Art Edition", die ersten tausend Ausgaben "mit signierten Fine Art Print", kostet 4000 Euro. Und ja, man kann sagen - und Taschen sagt es auch laut und deutlich: "Sie hat uns einen Sumo geschenkt."

Weshalb die Rechnung tatsächlich aufgehen könnte. Der Sumo, die Königsklasse unter den Coffee Table Books, hat zuletzt bei Helmut Newton zu fiebrigen Phantasiepreisen am Markt geführt. Allerdings galt damals der Sumo als "eine wahrlich einzigartige Publikation".

Aber sie war offenbar so erfolgreich, dass man schon auf die Idee kommen kann, die Einzigartigkeit zu doubeln. Nun, da Newton der "einflussreichste, faszinierendste und umstrittenste Fotograf des 20. Jahrhunderts" war, mit Hilfe der größten Porträtfotografin der Welt. Benedikt Taschen und der superlativste Superlativ: Das wäre mal eine Geschichte für sich, aber erst, wenn uns Zaha Hadid exklusiv einen Zeitungsständer dafür entwirft.

So stellt sich also die Frage, warum man trotzdem nicht genervt ist vom Leibovitz-Sumo, sondern, durchaus: fasziniert. Weil in der Abfolge all der berühmten Bilder, die schon ikonischen Wert besitzen, ein grandioses Porträt unserer Zeit aufscheint, wie es das tatsächlich kein zweites Mal gibt. Zwischen der Schwarz-Weiß-Aufnahme, auf der Richard Nixons Hubschrauber 1974 abhebt, über das wohl berühmteste John-Lennon-Bild (mit Yoko Ono) bis hin zur Queen (ohne minzgrünen Hut), aufgenommen im Jahr 2007: Das sind Jahrzehnte des Sehens und Begehrens. Das ist die Gegenwart. War es.

Schon längst selbst ein Star

Dazwischen: Cate Blanchett als Venus I, David Byrne im Seltsamfaunblätterwaldanzug, Whoopi Goldberg in der milchigen Badewanne, Keith Haring, nackt und haringhaft als Comicmännchen, Kunst für die Kunst in der Kunst, das Bild vom Bild vom Bild im Bild . . . John Cleese, am Baum hängend, Lady Gaga, Tony Curtis als alter Sack, Jack Nicholson am Mulholland Drive, Scarlett Johansson als Venus II . . . man schließt die Augen, erinnert sich unweigerlich an Posen und Parodien, an Schönheit und scheinbare Zufälligkeit: und kennt die Welt. Oder meint sie zu kennen, was womöglich noch viel interessanter ist. Es ist ein spektakulärer Irrtum über das Sehen und Wissen.

Vielleicht ist Annie Leibovitz, die Porträtistin der Stars und unserer Sehnsüchte nach Ikonen aller Art, also wirklich eine ganz Große. Sicher ist sie das. Und selbst schon längst ein Star. Mit überwundenen Kokain-Problemen, mehreren Penthouses und aktuellen Geldsorgen: mit den Stars auf du und du. Jedenfalls hat sie sie alle gehabt. Nicht peggyguggenheimhaft, sondern vor der Kamera - aber ebenfalls, um daraus eine Kunst zu machen.

Wer, wenn nicht Leibovitz, hätte etwa Carl Lewis, das (mehrfach positiv auf Ephedrin und andere verbotene Substanzen getestete) Sprintwunder dazu bringen können, sich hochhackige knallrote Heels anzuziehen? Und ihn dann nicht lächerlich aussehen zu lassen - sondern, und da fängt die Kunst an, selbstverständlich.

Wie natürlich das aussieht, wie logisch es nachgerade erscheint, dass die Attribute von männlich/weiblich ihre Bodenhaftung und ihre interpretatorische Lufthoheit verlieren; wie sinnig es ist, dass die unverhohlene Ästhetik nicht im Auge des Betrachters liegt, sondern dass des Betrachters Auge erst der Inszenierung den entscheidenden Kick gibt.

Annie Leibovitz: Mit Beiträgen von Steve Martin, Graydon Carter, Hans Ulrich Obrist, Paul Roth. Taschen Verlag, Köln 2014. Insgesamt limitiert auf 10.000 signierte und nummerierte Exemplare in vier Cover-Varianten, davon 1.000 Ex. mit einem Fine Art Print von Annie Leibovitz. Hardcover (mit 6 Ausklappern), Textband und Buchständer, gestaltet von Marc Newson. 50 mal 69 cm, 476 S., 2000 Euro.

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