Bildband:Sinnfreiheit und Deutungsdelirium

Brienzersee June 2015

In den leergeräumten Landschaften soll der Betrachter eine Lücke erkennen und sie mit erinnerter Anschauung füllen: "Brienzersee June 2014", fotografiert von Teju Cole.

(Foto: Teju Cole/ aus "Blinder Fleck" (Hanser Berlin))

In "Blinder Fleck" erkundet Teju Cole die Grenzen der dokumentarischen Fotografie.

Von Helmut Mauró

Vielleicht hätte man das etwas großspurige Vorwort von Siri Hustvedt besser im englischen Original gelesen. Vielleicht hätte dort so ein Anlauf zu ästhetischer Theorie einen eleganteren Schwung genommen.

Andererseits ist dieses Buch gerade ein Buch des Konjunktivs, eine Feier des Konjunktivs, könnte man sagen. All die wunderbar inhaltsarmen enigmatischen Fotografien aus den Vorstädten dieser Welt, die trostlosen Vorgärten und leer geräumten Landschaften leben von der Vorstellungskraft des Betrachters, der in diesen Bildern ein Zeichendefizit erkennen soll, einen großen blinden Fleck, den er mit eigener erinnerter Anschauung füllen sollte. So will es der Autor Teju Cole, der dem Fotografen Teju Cole hier mit kurzen Texten zur Seite springt.

Ein Hinterhofausschnitt in Berlin. "Städtischer Raum steckt voller Hinweise, und gelegentlich zwingt ein moralisches Gebot das Versteckte, sich zu zeigen." Drei Zeilen später kommt die Gestapo ins Vorstellungsbild, indikativ. "Eben wegen dieser Geschehnisse ist es ein unheilvoller Ort, eben wegen der Unschuldigen, die er austilgte, ist es ein heiliger Ort. Alle Städte tragen die Spuren dessen, was geschah - in Berlin verdichtet sich dieses Phänomen, Berlin ist Synekdoche für planvolle und planlose Gewalt, der Hinweis sign here." Tropische Rede, Denotation und Sinnfreiheit verschmelzen in diesem Deutungsdelirium zu einer Kryptologie sprachbildlicher Mythenbildung.

Cole, 1975 in den USA als Kind nigerianischer Eltern geboren, in Nigeria aufgewachsen, mit 17 in die USA zurückkehrend, allerhand studierend, heute in Brooklyn lebend, lehrend, schreibend, hat seinen größten Erfolg mit seinem Roman "Open City" gefeiert. Auch darin arbeitet er permanent mit Bildern, konkreten Anschauungen, Sinneseindrücken. Warum also verlässt er die Erfolgsspur reinen Schreibens?

Es könnte sein, dass Cole seinen Augen nicht mehr traute, nachdem er 2011 eine Phase halbseitiger Erblindung durchlebte und die ganze schöne dreidimensionale Welt verflachte. Es könnte auch der Zorn und die Verzweiflung darüber sein, dass man in so einer Zumutung von Halbblindheit mit jedem Blick mehr ersehnt, mehr einfordert, als man zu sehen bekommt. Der Konjunktiv hält alle Möglichkeiten offen. Wie wäre es, wenn Cole die dokumentarische Macht selbst der beiläufigsten Schnappschüsse dadurch unterläuft und die Subversion auch gleich miterzählt, indem er Fotografien herstellt, die möglichst nicht bildsinnlich wirken, sondern nur als leere Zeichensprache? Zu banal? Könnte sein. Es gelingt ihm auch nicht immer, manche Fotos sprudeln geradezu über vor inhaltlicher und formaler Beredsamkeit.

Teju Cole: Blinder Fleck. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Hanser Berlin, Berlin 2018. 350 Seiten, 38 Euro.

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