Bildband "Genesis" von Sebastião Salgado:Schönheit und Bombast

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In Reih und Glied: Pinguine in der Antarktis. (Foto: Sebastião Salgado / Amazonas)

Wenn er etwas anpackt, wird meist eine Riesen-Aktion daraus. Sebastião Salgados fotografisches Langzeitprojekt "Genesis" über die unberührten Winkel unserer Welt ist monumental geraten - mit Bildern von bestechender Schönheit. Genau das ist aber auch das Problem.

Von Paul Katzenberger

In der Bibel bildet der Mensch den Abschluss göttlicher Schöpfung und die Natur den Beginn. Sebastião Salgado hielt es anders herum. In seinem Fotografenleben interessierte er sich nach eigener Aussage lange Zeit immer nur für eine Kreatur: den Menschen. Nun hat er sich dem Beginn der Schöpfungsgeschichte doch noch zugewandt - in einem brachial-opulenten Bildband mit dem Titel "Genesis".

Die Anspielung auf die Bibel im Titel ist bei jemandem wie Salgado kein Zufall: Ob mit dem Kreuz, der Mutter Gottes oder dem Leichnam Jesu - der Fotograf bediente sich in seinen Bildern seit jeher der biblischen Ikonografie. In "Genesis" zeigt er nun die Welt als Ergebnis einer Schöpfung von überirdischer Schönheit: die Gletscher und die tiefen Schluchten in den amerikanischen, europäischen und asiatischen Randgebieten der Arktis fängt er in atemberaubenden Bildern ein, ebenso wie die nebelumhüllten Berge im Regenwald des Amazonas oder die endlosen Dünen der Sahara.

National Geographic Photo Contest 2012
:Katzenwäsche

Am richtigen Ort zur richtigen Zeit: Die Fotografin war so berührt von ihrem Glück, dass sie ihr Porträt der Tigerdame "Busaba" "Die Explosion" nannte. Das Foto ist tatsächlich explosiv in seiner Wirkung - beim National Geographic Contest 2012 gewann es nun den Hauptpreis. Doch ist das wirklich eine Aufnahme der Natur, wie angegeben?

Die Siegerfotos. Von Paul Katzenberger

Die Umorientierung vom Menschen zur Natur hat viel mit Salgados Lebensgeschichte zu tun: Auf einem Landgut in der brasilianischen Provinz aufgewachsen, entwickelte als Kind ein enges Verhältnis zur Natur. Zugleich wurde er mit den prekären sozioökonomischen Verhältnisse konfrontiert, in denen viele Menschen ihr Leben fristen müssen.

Ihrem Los widmete er zunächst seine Aufmerksamkeit, als er sich in den Achtzigerjahren als Fotograf etabliert hatte. Besonders bekannt wurde seine Fotoreportage von 1986 über die brasilianische Goldmine Serra Pelada, in der die Schürfer unter mittelalterlich anmutenden Bedingungen arbeiten. Das allmähliche Verschwinden traditioneller manueller Arbeit und die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Sklaven moderner Produktionsweisen schuften müssen, dokumentierte er 1993 in seinem ersten Langzeitprojekt "Workers".

In "Migrations" (2000) wies er auf das erschütternde Los von Menschen hin, die durch Kriege, Unterdrückung, Hunger und Naturkatastrophen zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen werden.

"Schönheit ist ein Aufruf zur Bewunderung"

Salgado, der sich schon als Student gegen die Militärdiktatur in Brasilien politisch engagiert hatte und vor ihr schließlich nach Europa geflohen war, versteht seine damaligen Fotografien bis heute als soziales Engagement, um gegen Gewalt und Ausbeutung zu protestieren. Doch nicht alle Kenner seiner Arbeiten nehmen ihm das uneingeschränkt ab. Bei aller Bewunderung, die ihm entgegenschlug, musste er auch Kritik einstecken. Seine bildgewaltigen und durchkomponierten Fotos setzten vor allem auf ästhetische Wirkung und instrumentalisierten das Leid der gezeigten Menschen, hieß es immer wieder.

In einer kritischen Würdigung seiner "Workers"-Reihe stellte der New Yorker 1991 Salgados Verknüpfung von Dokumentation und Pathos in Frage: "Die Tragödie zu ästhetisieren", schrieb das US-Kulturmagazin damals, "ist die beste Methode, um die Gefühle für die Opfer zu betäuben. Schönheit ist ein Aufruf zur Bewunderung, aber nicht zu Engagement."

Aufnahme der Goldmine Serra Pelada im Bildband "Photographien" des New York Times Magazine* (Foto: Sebastiãno Salgado / courtesy Schirmer/Mosel)

*The New York Times Magazine. Die Photographien 1978-2011. Herausgeben und mit einem Vorwort von Kathy Ryan. Mit Texten von Gerald Marzorati und den Photographen. 448 Seiten, 666 Abbildungen, davon 247 Tafeln in Farbe u. Duotone ISBN 978-3-8296-0553-3. Ladenpreis 58 Euro, 59.70 Euro (A), 81.90 sFr, lieferbar bei Schirmer/Mosel

In jedem Fall hat Salgado in seinem Leben sehr viel menschliches Elend mit eigenen Augen gesehen. Oft hielt er sich an Brennpunkten des Schreckens monatelang auf, um ein Verständnis für die Lage zu entwickeln.

In einem Auffanglager in Zaire, voll mit Menschen, die 1994 zu Hundertausenden vor dem Völkermord in Ruanda geflohen waren, fotografierte Salgado einen Sterbenden. Der Cholerakranke liegt mit dem Kopf nach unten auf dem dreckigen Boden, umringt von Gaffern. "Das beunruhigt einen", zitierte ihn die British Medical Journal mit lakonischer Bestürzung.

Mursi- und Suma-Frauen in Äthopien, die als letzte Menschen dieser Welt große Platten in ihren extrem geweiteten Unterlippen tragen. (Foto: Sebastião Salgado Amazonas)

Die Traumata, die er von seinen Reisen mit nach Hause brachte, bekam er irgendwann nicht mehr in den Griff. Er sei durch das Mitleiden mit den von ihm Porträtierten krank geworden, sagte er. Der Fotograf beschloss, sich gemeinsam mit seiner Frau Lélia auf die Plantage seiner Eltern zurückzuziehen, dorthin, wo er aufgewachsen war, in die brasilianischen Tropen. Doch was er vorfand, war erneut niederschmetternd: Der Wald seiner Kindheit war gerodet, der Boden durch Erosion zerstört.

Auch in dieser Situation entschied sich Salgado für die große Lösung: Er fasste den wahnwitzig anmutenden Vorsatz, zweieinhalb Millionen Bäume zu pflanzen. Dieses Projekt ist noch nicht abgeschlossen, doch den Nationalpark Bulcão Farm gibt es bereits, sowie das Instituto Terra, das sich der Wiederaufforstung von gerodeten Wäldern sowie dem Naturschutz verpflichtet fühlt.

Aus Salgados Engagement für die Natur entwickelte sich wieder ein neues fotografisches Langzeitprojekt zur Darstellung jenes ersten Teils der biblischen Schöpfungsgeschichte - der Erschaffung der Natur.

Auf 55-tägiger Wanderung durch Nordäthiopien

Acht Jahre lang unternahm er 32 Reisen in Gegenden der Welt, die sich in der langen Erdgeschichte kaum verändert haben. Sie zu identifizieren, sei nicht schwierig gewesen, sagt er. Denn unglaubliche 46 Prozent der Landmasse unseres Planeten seien noch immer so unberührt wie am Tage der Schöpfung, zitiert er die gemeinnützige Organisation Conservation International, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Diversität an Pflanzen, Tieren und Landschaftsformen zu erhalten.

Regionen schnell orten zu können, bedeutet nicht, dass es leicht ist, dorthin zu gelangen: In die Antarktis schipperten seine Crew und er mit einem 36 Meter langen Schiff, das so konstruiert war, dass es auftreibt, bevor es die Eismassen zerdrücken konnten. Trotzdem war es riskant, im Weddell-Meer zu segeln, wie er berichtet: "Wegen der vielen Eisberge, von denen einige kaum sichtbar waren und andere beängstigend groß." Vom christlichen Wallfahrtsort Lalibela, der auch Neu-Jerusalem genannt wird, startete er zu einer 55-tägigen Wanderung durch Nordäthiopien und stieß zum Bergmassiv des "Abune Yosef" vor, wo Christen auf 4200 Metern Höhe in Höhlenkirchen beten.

Mit "Genesis" legt Salgado nun seinen Bericht in Bildern von diesen Reisen vor. Der Taschen-Verlag bietet den Fotoband für 49,99 Euro an. Und dann gibt es noch eine zweibändige Sammler-Edition in fünf verschiedenen limitierten Auflagen von jeweils 100 nummerierten und signierten Sets zum Preis von 7500 Euro.

Das Sammler-Exemplar ist - typisch für Salgado - so großformatig und mit knapp 60 Kilo so schwer, dass es eines eigenen Buchständers bedarf, der vom japanischen Star-Architekten Tadao Andō entworfen wurde und im Preis enthalten ist. Zugleich stellt Salgado seine Aufnahmen in einer Welttournee aus, die bis Anfang nächsten Jahres in London, Rom, Toronto, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Lausanne und Paris gastieren wird.

Sebastião Salgado mit der Sammler-Edition von "Genesis" (Foto: Taschen)

"Genesis" ist enorm vielfältig. Geografisch reicht das Spektrum von den Polen der Erde, über Gebirge, Vulkanlandschaften, Urwälder, Wüsten bis hin zu den Ozeanen und ihren Inseln. Die Tierwelt ist in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zu sehen - von Rentieren in Sibirien über Pinguine in der Arktis, Blutbrustpaviane in Äthiopien, bis zu Zebras, Giraffen und Löwen im botswanischen Okavango-Delta. Auch den Menschen zeigt Salgado wieder - in Form von Angehörigen indigener Völker, wie den Korowai in Westpapua, der Waura im brasilianischen Xingu-Becken, der Nenzen, die mit ihren Rentieren nahe des Polarkreises leben oder der Mursi- und Suma-Frauen in Äthopien, die als letzte Menschen dieser Welt große Platten in ihren extrem geweiteten Unterlippen tragen.

Wie von Salgado zu erwarten, sind die Bilder auch in "Genesis" von atemberaubender Schönheit und großer Dramatik. Zum Beispiel die Aufnahmen der "Tsingy" auf Madagaskar, die er als eine der bizarrsten Steinformationen bezeichnet, die er je gesehen habe, und deren geometrische Regelmäßigkeit sein geübtes Auge nur allzu genau erfasst. Oder die Bilder des in geschwungenen Schleifen mäandernden Amazonas unter einem mächtigen Dom aus Wolken - kaum ein anderer Schwarz-Weiß-Fotograf beherrscht den Umgang mit Schattierungen, Grauabstufungen und Hell-Dunkel-Kontrasten so gut wie er.

Im Gegensatz zu seinen früheren Serien ist Salgado bei "Genesis" nicht der Vorwurf zu machen, er nutze menschliche Tragödien für schöne Bilder an Galeriewänden. Im Gegenteil, die Schönheit der Natur ist sein vorrangiges Anliegen. "Genesis" ist seine Hommage an den Planeten - einerseits.

Andererseits verbindet er seine Fotos auch dieses Mal mit einem politischen Appell: der Mahnung an die Zivilisation, die Erde in ihrer Ursprünglichkeit und in ihrer faszinierenden Vielfalt zu bewahren.

Moderne Ästhetik versus natürliche Ursprünglichkeit

Sebastião Salgado, Genesis, Lélia Wanick Salgado, Hardcover mit 17 ausfaltbaren Seiten, 24,3 x 35,5 cm, 520 Seiten, Taschen, 49,99 Euro. (Foto: N/A)

In dieser politischen Absicht Salgados liegt auch bei "Genesis" ein Widerspruch. Denn sein Blick ist der eines Mannes, der ganz offensichtlich tief von der Ästhetik und der Bildsprache des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst ist. So wie er die Natur sieht, zeigen sie auch die Fotografen des National Geographic Magazin oder in Ansätzen seine Wegbereiter aus dem 19. Jahrhundert, Foto-Pioniere wie Anselm Adams oder Carleton Watkins.

Der Brasilianer sucht in seinen Bildern genau nach den Strukturen und Formen, an die wir uns in unserer Zivilisation gewöhnt haben. Darin liegt ein Paradoxon: Denn nur durch ihre Massentauglichkeit entwickeln die Fotos eine Anziehungskraft, die kommerziell verwertbar ist, wie allein schon die Sammler-Edition von "Genesis" deutlich macht. Andererseits wollen die Bilder die Konsumgesellschaft und unseren zerstörerischen Lebensstil in Frage stellen, indem sie uns mit dem Ursprung der Welt konfrontieren. Die ganz eigenen Gesetze und die damit verbundene Ästhetik der Natur blendet Salgado aber aus: Jene Aspekte der Ursprünglichkeit, die vielleicht am authentischsten sind, die den modernen Menschen möglicherweise aber konsternieren würden (Folgen von Hitze, Kälte, oder etwa das Blutbad, das Krokodile bei der Jagd anrichten), mutet uns der Fotograf nicht zu.

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