Bildband:Das Las Vegas der Religion

Ahmed Mater hat in den vergangenen zehn Jahren mehr als 600 Fotografien in Mekka aufgenommen. Sie zeigen, mit welcher Wucht die Pilgermassen die 1,5-Millionen-Stadt verändern.

Von Jörg Häntzschel

Ahmed Mater ist Arzt, doch seit einigen Jahren untersucht er nicht mehr Menschen, sondern Städte, vor allem die eine, die allen Muslimen besonders wichtig ist: Mekka. Etwas stimmt mit ihr nicht, das scheint klar zu sein, aber Mater ist zu skrupulös, um eine Diagnose zu wagen. Seine Forschungen hat er jetzt veröffentlicht: Mehr als 600 Fotos, die er in den vergangenen zehn Jahren in Mekka aufgenommen hat. Er hat auf den dreckigen Stockbetten der wie Sklaven gehaltenen Bauarbeiter gesessen und Familienfeiern der Scheichs in ihren Luxussuiten besucht, ist mit dem Hubschrauber über die Stadt geflogen und hat Fresken in alten Moscheen fotografiert, bevor sie zerstört wurden. So geduldig und präzise hat noch nie jemand die Stadt dokumentiert. Für alle Nicht-Muslime, die sie bekanntlich nicht betreten dürfen, gibt es darum nun eine gute Alternative (Ahmed Mater: Desert of Pharan. Lars Müller Publishers, Zürich 2016. 632 Seiten, 60 Euro).

Jedes Jahr, wenn zum Hadsch zwischen zwei und drei Millionen Pilger in die 1,5-Millionen-Stadt strömen, erreichen Stress und Chaos Ausmaße, die von Bewohnern, Besuchern und der städtischen Infrastruktur kaum noch zu ertragen sind. Was dieser Druck mit den Menschen macht und wie er die Stadt verändert, davon handelt Maters Buch. Die Pilger kommen einer spirituellen Erfahrung wegen nach Mekka. Doch weil es heute 30-mal so viele sind wie noch vor hundert Jahren, erleben sie statt der Nähe zu Gott vor allem eine bisweilen albtraumhafte Nähe zu anderen Menschen. Weißverhüllte wandern zu Hunderttausenden über Autobahnen durch die Wüste. Sie nächtigen in Zeltstädten, die bis an den Horizont reichen, und schnappen nach Luft, während sie sich um die Kaaba drängen. Sie liegen in langen Reihen zugedeckt auf Bahren am Boden: 2015 wurden bis zu 2400 Menschen bei einer Massenpanik zu Tode getrampelt, auch sie hat Mater fotografiert. Allein sind hier nur die Verlorengegangenen und Gestrandeten, die mit hohlem Blick im Müll am Straßenrand hocken, während ihre Mitpilger längst im Bus zum Flughafen sitzen.

Menschenmassen dieser Größe gibt es außerhalb von Kriegsgebieten nirgends auf der Welt. Um sie aufzunehmen, zu lenken und zu kontrollieren, wurde die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten mit einer Infrastruktur aus Parkplätzen, Militärbasen, Kontrollpunkten und Überwachungstechnologie überzogen, die sie aussehen lässt wie aus einem Science-Fiction-Film.

Diskret und ohne Polemik lässt Mater die schwindelerregenden Paradoxien der Stadt aus seinen Bildern sprechen: Es ist ein Ort, der so sehr von Religion lebt wie Las Vegas vom Glücksspiel, in einem Land, das beinahe ausschließlich vom Öl lebt. Ein Ort, der tabu ist für die große Mehrheit der Weltbevölkerung, aber so sehr Produkt der Globalisierung wie kaum ein anderer. Es ist eine Stadt, deren ganze Existenz auf den historischen Ereignissen fußt, die dort stattfanden, aber gerade dabei ist, fast alles, was alt ist in ihr, auszulöschen. Denn Mekka ist nicht nur das Zentrum der islamischen Welt, es ist auch ein Zentrum der Geschäftemacherei.

Mitten in der Stadt wurden in den vergangenen Jahren historische Bauten gesprengt, um Platz zu schaffen für gigantische Bauprojekte, viele davon Hotels für superreiche Gläubige. Das größte ist das Abraj Al Bait, eine islamisierte Kopie von Big Ben, aufgeblasen zum mit 600 Metern vierthöchsten Gebäude der Welt. Der Bau dieses grotesken neuen Wahrzeichens ist in Maters Buch die andere Seite des Hadsch. Hier fallen Karawanen von Pilgerbussen in die Stadt ein, dort die Bagger und Laster. Hier schieben sich die Zeltstädte in die Wüste, dort die Lager für Stahl und Marmor. Hier kauern ärmere Pilger zum Essen auf der Straße, dort hausen die aus ärmeren islamischen Staaten nach Saudi-Arabien gekommenen Bauarbeiter in erbärmlichen Unterkünften. Hier werden Menschen in der Menge erdrückt, dort von einem Megakran zerquetscht, der aus dem Gleichgewicht geraten ist. Mater dramatisiert nicht, und es geht ihm nicht um Kunst. Ihm geht es um Anteilnahme.

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