Architekturfotografie: Chandigarh 1956:Schöne neue Welt

Zwischen archaischen Arbeitsmethoden und ultramodernen Gebäuden: Im Indien der fünfziger Jahre erschuf Architekt Le Corbusier eine Stadt aus dem Nichts. Nun zeigt ein Fotoband den aus Stein gebauten Demokratieentwurf.

Laura Weissmüller

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Im Indien der fünfziger Jahre erschuf Architekt Le Corbusier eine Stadt aus dem Nichts. Nun zeigt ein Fotoband den aus Stein gebauten Demokratieentwurf.

Die kühne Version einer modernen Stadt entstand per Hand. Da werden Betonklumpen über eine meterlange Menschenkette nach oben gehievt, schwer beladene Körbe auf dem Kopf balanciert, und die Bauarbeiter turnen barfuß über zusammengebundene Bambusgerüste. Die schweißtreibende Handarbeit lässt Lehmbauten hinter den windschiefen Gerüsten vermuten; doch tatsächlich wachsen dort kerzengerade Betonklötze in den Himmel, monumental und mit dem Versprechen einer besseren Welt. Denn was dort mitten im indischen Nichts entsteht, ist Chandigarh, ein aus Stein und Beton gebauter Demokratieentwurf.

Text: Süddeutsche Zeitung vom 2.8.2010/ alle Abbildungen aus: Chandigarh 1956, Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry. Fotografien von Ernst Scheidegger, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2010. 272 Seiten, 55 Euro.

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Wie handfest der visionäre Stadtplan von Le Corbusier Anfang der fünfziger Jahre verwirklicht wurde, offenbaren jetzt die Fotos von Ernst Scheidegger, die mehr als ein halbes Jahrhundert im Depot schlummerten. Sie zeigen den Kontrast zwischen den archaisch wirkenden Arbeitsmethoden und den damals ultramodernen Gebäuden und machen sichtbar, wie die Menschen dem "Tempel des neuen Indien" Leben einhauchten. Der Bildband, herausgegeben von dem Kunsthistoriker und Le-Corbusier-Kenner Stanislaus von Moos und bestückt mit kundigen Essays, erzählt damit die Geschichte einer Stadteroberung.

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Chandigarh, das war vor allem eine politische Entscheidung. Als Indien 1947 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde, brauchte man im Bundesstaat Punjab ein repräsentatives Gegengewicht zur pakistanischen Provinz, außerdem wollte man eine städtebauliche Antwort auf den politischen Systemwechsel geben. Wovon die Architekten in Europa nur träumen konnten - obwohl dort ganze Städte durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren -, das war in Indien möglich: der Aufbau einer neuen Stadt im Geiste der Demokratie.

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Eine Aufgabe wie geschaffen für Le Corbusier, den großen Visionär des 20. Jahrhunderts. Der Architekt der Wohnmaschine, der in seinen unrealisierten Stadtentwürfen nicht unbedingt zimperlich vorging - für seinen "Plan Voisin" 1925 wollte er die komplette Pariser Innenstadt abreißen - entwarf 1951 den Masterplan für Chandigarh, optimalerweise auf der sonnengedörrten grünen Wiese. War er selbst in den kommenden Jahren kaum vor Ort, wohnte der Rest des Planungsteams, sein Cousin Pierre Jeanneret und die englischen Architekten Jane B. Drew und E. Maxwell Fry, mehrere Jahre dort. Ein etwas spannungsgeladenes Quartett - Le Corbusier porträtierte sie einmal als Rabe, Hahn, Zicklein und Ziege -, dafür aber sehr erfolgreich: Bis Mitte der sechziger Jahre entstand eine Stadt für 150.000 Einwohner. Vor allem das symbolträchtige Regierungsareal sollte in die Geschichts- und Architekturbücher eingehen, auch weil Jeanneret ausdauernd mit den indischen Baubehörden um die exakte Realisierung der Corbusier'schen Entwürfe rang. Nicht unbedingt einfach in einem Land, das dem Sichtbeton noch nicht so verfallen war wie der Rest der Welt.

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Scheidegger nun reiste dreimal nach Indien, um "das Wachsen der neuen Stadt" zu dokumentieren. Der Fotograf hoffte auf eine Buchreihe über den Entstehungsprozess, doch sein Plan ging nicht auf. Dafür befindet sich jetzt im Bildband ein Faksimile der Originalmarquette, inklusive Skizzen von Le Corbusier. Natürlich sieht man auf Scheideggers Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen verschiedene Wohnungsbautypen, Schulen und Krankenhäuser genauso wie das Kapitol mit dem Parlamentsgebäude und dem Justizpalast, zwei gigantische Bauskulpturen, die von Le Corbusier auf den trockenen Boden gepflanzt wurden. Doch noch mehr interessiert den Fotografen das, was sich zwischen den Betonsteinen abspielte, wie sich der Alltag in die Bauten einnistete und die Menschen die Stadt langsam in Beschlag nahmen: mit ihren Fahrrädern das Treppenhaus zustellten, die verkrumpelten Bettlaken auf den perforierten Sonnenschutzwänden trocknen ließen oder ihre Friseurspiegel einfach draußen aufstellten, weil die Ladenmiete zu teuer war.

Scheidegger zeigt also das, vor dem Architekten bis heute graut: Natur und Mensch sind schließlich die Feinde ihrer Arbeit. Die eine fabriziert hässliche Wasserflecken, der andere versucht, sein Zuhause wohnlich zu gestalten - was kaum eine Entwurfsidee unbeschädigt übersteht. Die klassische Architekturfotografie kehrt das Leben deswegen fein säuberlich aus den Bauten - indem Ernst Scheidegger es in den Bildern lässt, gibt er die Chance, auch hinter die Betonfassade zu schauen.

© Süddeutsche Zeitung vom 2.8.2010/kar
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