Bildbände über Tanz:Der zivilisierte Eros

Wie Skulpturen sind die Tänzer in der Oper Amsterdam inszeniert, rauchend und wie kurz vor dem Umzug bevölkern sie das Studio von Pina Bausch.

Von Dorion Weickmann

Skeptisch blickt der Herr in die Kamera, als warte er auf das Plazet des Fotografen: Krawattenknoten sitzt, Anzug wirft keine Falten! Dagegen wirkt seine Kollegin ganz locker: Was soll sich eine Pina Bausch für Fototermine herausputzen? Oder die abgewetzten Rollkästen mit der Aufschrift "Tanztheater" wegräumen lassen, die hinter ihr herumstehen? Ihr Arbeitsplatz muss keinem Ordnungsprinzip gehorchen, während der perfekt gekleidete Herr alias Hans van Manen in einem ebenso perfekten white cube posiert.

Was kaum Zufall ist, schließlich liegen auch Welten zwischen den Werken der im Juni 2009 verstorbenen Doyenne des Wuppertaler Tanztheaters und dem Œuvre des über achtzigjährigen Choreografen, der bis heute Amsterdams Ballett veredelt. Warum das so ist, verraten zwei Doku-Bände über Bauschs Proben und Rob Beckers glamouröse Fotos für "Ballet in the Studio" - eine gedruckte Hochglanzgalerie, in der auch der niederländische Choreograf Hans van Manen verewigt ist.

Becker hat klassische Tänzerinnen und Tänzer in einem Ballettsaal der Amsterdamer Oper aufgenommen. Die meisten sind dort bei Het Nationale Ballet engagiert, ein paar kommen aus anderen Ensembles. Sie alle verhelfen dem Fotografen zu intimen Porträts und spektakulären Körperansichten. Wenige Seiten weiter versammelt er Liebes- und Streitpaare, deren Tun freilich nie aus dem Rahmen fällt, in den das Ballett die menschliche Trieblandschaft einpasst: Jeder Auftritt wird ästhetisch verfeinert, der Eros zivilisiert.

In Amsterdam entspricht die nüchterne Architektur dem puristischen Ballettgefüge

Deshalb bleibt eine Ballerina wie Anna Tsygankova auch mit bloßen Schenkeln ganz züchtige Schwanenkönigin. Deshalb legt der Solist Jozef Varga die Aura des melodramatischen Helden selbst dann nicht ab, wenn er in Schlabberhose daherkommt. Szenen wie diese fängt Becker in einem Tanzstudio ein, dessen einziger Wandschmuck eine Lammellenheizung und Ballettstangen sind. Die nüchterne Klarheit der Architektur entspricht dem puristischen Gefüge des Balletts, wie es auch ein Hans van Manen entwirft. Wie Skulpturen werden die Tänzer modelliert, während das Ambiente den Schauwert ihrer Leiblichkeit hervorhebt, indem es konkurrierende Reize ausschaltet.

Völlig anders tickt das Tanztheater der Pina Bausch, obwohl die Choreografin den klassischen Tanz schätzte und um seine Gestaltungs- und Trainingseffizienz wusste. Was die Fotografen KH. W. Steckelings und Wilfried Krüger in Wuppertal backstage und im Probenzentrum Lichtburg eingefangen haben, zeigt einen Kreationsprozess im Dialog. Angeleitet wird er von Bausch in einer Doppelrolle: Prima inter Pares und dennoch Meisterin einer tanzenden Gesellenschar, die ihr blindlings vertraut.

Im Gegensatz zum Ballett hat der Körper hier den Status eines Kunstobjekts abgestreift. Er wird als Subjekt behandelt, als Geschichten-Erfinder und Erzähler, der nicht länger makellos-schöne Bilder herstellen muss. Der Raum, in dem sich das abspielt, ist von symbolischer Bedeutung: Die Lichtburg, ein ehemaliger Kinosaal, dient Bauschs Tanztheater als Hauptquartier und bleibt doch ein Dauerprovisorium. Nicht umsonst wirken Wilfried Krügers 1996 gemachte Aufnahmen so, als wäre die Kompanie mitten im Umzug. Unzählige Kartons verstellen den Weg, Klamotten und Schuhe liegen herum. Wo früher einmal die Leinwand war, steht nun Pina Bausch und beobachtet mit erhobenen Händen das Treiben der Tänzer: Bleistift rechts, Kippe links, Thermoskanne, Tempotücher, Brillenetui und Aschenbecher vor sich auf dem Tisch.

Pina Bauschs Studio ist ein ehemaliger Kinosaal

Von diesem Regiestand aus wird kein Umzug, sondern ein innerer Umbau dirigiert - Tag für Tag für Tag. Pina Bauschs Tanztheater ist in fortwährender Verwandlung. Das Kinokarma der "Lichtburg" sättigt seine Köpfe mit Fantasie, die Stückepisoden mit Welthaltigkeit, die Körper mit vitaler Energie - und zersetzt akademische Schönheitsdiktate. Der Ort selbst triggert die Entschlackung und Emanzipation des Tanzes. Er wird zur Experimentierbühne auf Zeit für Kunstgebilde, die zur Premiere längst noch nicht fertig sind. Der Bruch mit dem Ideal physischer, optischer, technischer Vollkommenheit zeichnet das Tanztheater aus. Aber er potenziert auch die Gefahr des Zerfalls, sobald der Ursprungsimpuls wegbricht.

Het Nationale Ballet wird sich dank klassischer Ausrichtung im Exzellenzfeld behaupten. Wie sich das Wuppertaler Tanztheater mit Adolphe Binder, der neuen Frau an der Spitze, entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Wer die Probenfotos aus der Vergangenheit betrachtet, weiß jedenfalls: Dieser Zauber lässt sich nicht vererben.

Rob Becker: Ballet in the Studio. Publisher Lecturis, Amsterdam 2017, 192 Seiten, 50 Euro. Wilfried Krüger: Pina Bausch - Proben in der Lichtburg. Nimbus Verlag, Wädenswil 2016. 32 S. 14,80 Euro. KH. W. Steckelings: Pina Bausch backstage. Nimbus Verlag, Wädenswil 2014. 184 S., 29,95 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: