Es war ein Jahrhundertversprechen. Die große Ausstellung "Renaissance der Bahnhöfe" tourte vor 20 Jahren von der Architekturbiennale in Venedig nach Berlin und Hamburg und verkündete dem herbeiströmenden Publikum allerbeste Aussichten für die Zukunft der Stadt. In einer milliardenschweren Anstrengung wollten Staat und Bahn Dutzende deutsche Bahnhöfe sanieren und neu bauen, sowie riesige Gleisfelder vor Haupt- und Güterbahnhöfen abräumen. Dort könnten die "Entwicklungspotenziale der Stadt des 21. Jahrhunderts" frei gesetzt werden.
Neue Viertel sollten auf den Konversionsflächen entstehen, die einen "wichtigen Beitrag zur Reurbanisierung der Zentren als Wohnorte" leisten würden. Diese besäßen genug Charme und Lebendigkeit, um an die "qualitätvollen Bahnhofsquartiere der Gründerzeit anzuknüpfen". Das klang nach imperialem Stadtumbau, wie ihn Augustus im alten Rom und Baron Haussmann im Paris des 19. Jahrhunderts geleistet hatten. Auch bei der Umwandlung der alten Kathedralen des Zugverkehrs in Bahnhöfe für das 21. Jahrhundert versprach die Bahn, aus der missglückten eigenen Vergangenheit zu lernen.
Wo Dürr Vielfalt und Dichte ankündigte, findet man jetzt abweisende Großbauten
Ja, es klang nach echter Einsicht und Selbstkritik, als der damalige Vorsitzende des Unternehmens, Heinz Dürr, verkündete, dass die neuen Bahnhöfe keine "gesichtslosen Zweckbauten" mehr sein sollten, und dass auch das Konzept von Bahnhöfen als kommerzielle "Erlebniszentren mit Gleisanschluss" als "überholt" anzusehen sei. Die neue Verkehrsarchitektur werde "ökologisch und architektonisch zeitgemäße" Baukunst, anknüpfend an die "bewegten Formen der klassischen Moderne und des Futurismus ". Der zentrale Satz in Heinz Dürrs Katalogvorwort, einer Mischung aus Reue, Euphorie und Gelübde, lautete: "Es gibt doch noch Visionen."
Dieses Jahrhundertversprechen unter der Überschrift "Bahn frei für eine neue Stadt" muss so ausführlich zitiert werden, weil selten so viel gute Absicht so kläglich gescheitert ist. Statt neuer lebendiger Gründerzeitviertel auf den alten Gleisflächen ziehen sich heute Büro- und Schlafstädte bis ins Herz der Stadt, deren architektonische Anmut nur vergleichbar ist mit Tiefkühlspinat. Die belebenden Qualitäten der inneren Stadt sucht man längs der Einfahrt nach München, Frankfurt, Stuttgart, Berlin oder Hamburg-Altona ebenso vergeblich wie im Bahnhofsumfeld von Wilhelmshaven oder Hannover Messe-Laatzen, alles Projekte der einst erklärten Städte-"Renaissance". Wer hier 20 Jahre nach der Sanierungsoffensive der Bahn die kommunikative Dichte und Vielfalt europäischer Innenstädte, die Dürr versprach, sucht, findet nur die abweisende Härte zu großer Solitärblöcke mit Shopping-Malls, Abstandsgrün und Isolierfenstern.
Wo bleibt also das Gefühl stillen Jubels, das einen beim Verlassen des Gare du Nord in Paris oder der Liverpool Station in London begleitet, etwa in Berlin? In welcher unpersönlichen Franchise-Gastronomie findet man die Verweilqualität einer italienischen Bahnhofsbar, wo der Barista den Kunden mit vertrautem Lächeln begrüßt? Und was ersetzt den Wartesaal, in dem man früher den Partner fürs Leben finden konnte? Gittersitze, möglichst unbequem, damit kein Obdachloser darauf schläft.
Gut, die Nostalgie des Zwischenmenschlichen und Schönen hat in der rasenden Moderne keine Koalitionspartner mehr. Auch wenn das Wort "Renaissance" eigentlich die kulturhistorische Anknüpfung an wohlgelobte Vergangenheit meint. Nur wo sind stattdessen die "bewegten Formen der klassischen Moderne und des Futurismus " geblieben, die Dürr in den Entwürfen gesehen hatte? Unter dem zugigen Säulendach von Kassel-Wilhelmshöhe, wo zu jeder Jahreszeit Herbststurm tobt? In den Ladenpassagen mit Gleisanschluss, die seit Heinz Dürrs "Überholt"-Versprechen erst richtig die Reisekosten durch Sale-Käufe beim Warten auf verspätete Züge erhöht haben? Oder vielleicht doch bei "Stuttgart 21", dem unterirdischen Bahnhof mit den Lichtzipfelmützen, den der Schwabe Heinz Dürr seinen Landsleuten als Danaergeschenk hinterlassen hat?
Natürlich ist "Vision" ein Wort wie "Weihnachtsgeschenk", das Träume weckt, ohne etwas über den Inhalt zu verraten. Aber selbst mit schlichten Vorstellungen von der Zeichenhaftigkeit einer Architektur, wie sie Sonderbauten verdienen, findet man in Deutschlands Bahnhofsnetz keinen einzigen neuen Haltepunkt, der wegen seiner Baukunst in Erinnerung bliebe. Es gibt kein beeindruckendes Flugdach wie beim neuen Bahnhof von Rotterdam, keine gefaltete Alpenlandschaft wie in Wien, keinen dynamischen Silberstrudel wie in Arnhem oder eine blaue Grotte wie in Neapel. Es gibt in Deutschland einen Hundertwasser-Bahnhof in Uelzen. Das war's in anders. Der Rest sind uniforme Zweckbauten in der Primärfarbe Grau.
Die typischen Tugenden deutschen Effizienzdenkens - Schnellabfertigung, Standard und Schmutzangst - bestimmen das Design deutscher Bahnhöfe, nicht ästhetische Kriterien. Oberflächen müssen grundsätzlich so dreckfarben aussehen, dass man Dreck darauf nicht mehr sieht. Aufenthaltsdauer ist auf die kürzeste Konsumfrequenz zu reduzieren, weswegen Sitzen, Warten oder Beobachten rigide bekämpft wird, zum Beispiel mit so engen Bahnsteigen und Verbindungswegen, dass Anrempeln das neue Grüßen wurde.
Die immer gleichen Läden brüllen ihr "Kauf mich" in München so wie in Leipzig. Enge ist Trumpf
Auch für die immer gleichen Markenversprechen, die in Berlin fünf Ebenen tief "Kauf mich" brüllen, die aber auch in München, Köln oder Leipzig anzutreffen sind, ist Enge Trumpf. Man will ja nicht Kaufreflexe durch unnötiges Nachdenken verzögern. Und dort, wo die Altvorderen ihren Bahnhöfen noch eine räumliche Großzügigkeit zugestanden hatten, bewirken Fressbuden und andere kommerzielle Einbauten, dass es in deutschen Bahnhöfen nicht mehr nach Reise und Fernweh riecht, sondern nach Salami und Zuckerwaren.
Schließlich bringen Hunderte Werbebanner die Architektur genauso gründlich zum Verstummen wie die Tunnel der neuen Schnellstrecken das Reisen zum Erblinden. Ob das wirklich ökologisch ist, Herr Dürr, kommerzielle Palastbeleuchtung und Fast-Food-Konkurrenz als Beschleuniger der Massentierhaltung? Die Klimabilanz der alten Hauptbahnhöfe mit ihren Bierstuben, Pornokinos, Schustern und Eigentümerläden für Reiseproviant, Tabak und die Quick war sicher besser. Dafür lieferten sie auch die Bühne für bürgerliche Albträume, niedergeschrieben etwa in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo".
"Vision" und "Renaissance" liegen bei der Bahn also auf Wiedervorlage. "Standard" und "Profit" lenken weiterhin den Architekturzug mit großer baukultureller Verspätung, gerade im Vergleich zum Ausland. Daran wird sich kaum etwas ändern, betrachtet man die Siegerentwürfe für das größte neue DB-Projekt, den Hamburger Durchgangsbahnhof Altona in Diebsteich, der 2023 den alten Kopfbahnhof ablösen soll. Alle drei Erstplatzierten bestehen aus zwei biederen gewerblichen Hochhäusern mit gläserner Abfertigungshalle.
Der letzte schöne Bahnhof in dieser Gegend, der alte Bahnhof Altona von 1898, war dagegen ein Prachtexemplar des Historismus, der in den Siebzigern ohne Not abgerissen wurde - für ein Kaufhaus mit Gleisanschluss aus Betonfertigteilen. Vielleicht ist es doch diese Epoche der gesichtslosen Zweckbauten, auf die DB-Manager das Wort "Renaissance" beziehen. Ein Jahrhundertversprechen ist das wahrlich nicht. Eher eine Jahrhundertdrohung.