Hin und wieder braucht die Kunst eine Weile, bis sie mit den neuen Technologien etwas anfangen kann. Wenn aber die kritische Masse aus Ideen, Fortschritt und Kontext erreicht ist, hat ein neues Kapitel der Kulturgeschichte oft schon lange begonnen, bevor es definiert wird. So ist gerade ein erstes Grundlagenwerk zur digitalen Kunst erschienen. "The Age of Data" heißt der Band. Herausgeber, Gestalter und Autor ist Christoph Grünberger, der als Art Director für große Firmen und Marken arbeitet. Und gleich vorne auf dem Titel zeigt die Kunst bereits, was sie inzwischen kann. Da sieht man die winzige Figur einer Betrachterin vor einer Datenskulptur von Refik Anadol. Der ist so etwas wie der Jeff Koons der digitalen Kunst geworden, mit allgegenwärtigen Monumentalinstallationen rund um die Welt und einer so einfachen wie wiedererkennbaren Bildsprache. Dazu eine Ästhetik, die eher überwältigt als fordert.
Refik Anadol wurde in Istanbul geboren. Seinen warmen, mediterranen Akzent hat er sich immer noch erhalten, obwohl er seit fast zehn Jahren in Los Angeles lebt. Seine Arbeitsweise ist komplex. Er dekonstruiert Datensätze wie die Twitter-Nutzung der Stadt San Francisco, die Wetterdaten des Marmarameers oder ganze Bildarchive und füttert sie in eine künstliche Intelligenz, die daraus dann seine Bewegtbilder schafft. Ein wenig wie bei den Fraktalen des Mathematikers Benoît Mandelbrot werden also komplexe Berechnungen sichtbar gemacht. Bei Anadol sehen diese KI-Installationen allerdings aus wie Lava, wie Zeitrafferblüten oder Gischt, die den Raum scheinbar ergreifen. Seine Inspiration war eine Filmszene, die er als Kind gesehen hatte: der Moment in "Blade Runner", in dem die Androidin Rachael begreift, dass ihre Erinnerungen nicht die eigenen sind, und ihr Rick Deckard sagt, dass sie Implantate der Nichte ihres Konstrukteurs sind.
Endlich ist die Technik weit genug, um in der Kunst über Elektronippes hinauszukommen
Anadol spielt mit diesem Motiv der Maschine, die aus Erinnerungen neue Bilder schafft, in immer neuen Variationen, die er in dem Buch vorstellt. Er hat etwa das Stadtarchiv von Istanbul verarbeitet. Zum 100. Jubiläum der Los Angeles Philharmonics hat er 77 Terabyte Archivmaterial aus 100 Jahren in eine Arbeit verwandelt, die auf die Disney Concert Hall projiziert wurde. Für seine aktuelle Ausstellung in der König Galerie in Berlin hat er unter anderem die Winddaten der Stadt verarbeitet. "Daten sind meine Pixel, Architektur meine Leinwand", hat er seine Arbeit mal beschrieben.
Anadol kommt nicht aus der Kunst. Er hat Design studiert. Genau wie Grünberger hat er mit der Kunstgeschichte also nicht allzu viel zu schaffen. "The Age of Data" ist entsprechend eher organisch gewachsen, als geplant worden. Vor zwei Jahren hatte Grünberger "Analoge Algorithmen" veröffentlicht, ein Werkbuch für Designer, das sich mit den neuen Formsprachen beschäftigt, die an und in Computern entstehen. Aus den Diskussionen ergaben sich immer mehr Interviews mit rund 40 Künstlerinnen, Künstlern und Kollektiven, die aus solchen Formsprachen Werke schaffen, die für sich stehen. "Im Lockdown hatten die ja alle Zeit", sagt Grünberger. Der meldet sich gerade aus dem niederbayerischen Zwiesel, wo er arbeitet, weil es als Art Director gerade ganz egal ist, an welchem Ort der Welt man sich befindet. Und weil er die Produktion des Buches über Kickstarter finanziert, sprach es sich schnell herum, dass er da an einem Grundlagenwerk arbeitet. "Ich hätte Leute für Band zwei, drei und vier", sagt er. "Viele wären da gerne dabei gewesen." Erschienen ist es dann bei Niggli, einem Schweizer Fachverlag für Architektur, Design und Typografie.
Der Untertitel deutet auch schon an, dass sich die Grenzen zwischen Kunst und Design auf diesem Gebiet gerade auflösen: "Embracing Algorithms in Art & Design". Die Umarmung der Algorithmen in Kunst und Gestaltung.
Die Liste der neuen Namen, die im Buch auftauchen und die man sich merken könnte, ist so weltweit wie eigenwillig. Neben Leuten wie Brendan Dawes, Shohei Fujimoto, Lotte Stöver oder Tina Touli stehen da Kollektive mit orthografisch eigenwilligen Namen wie WHITEvoid, .Defasten oder RANDOM INTERNATIONAL.
Die Bildsprachen sind dabei so unterschiedlich wie die Herangehensweisen. Der einzig rote Faden ist das Rohmaterial: Daten. Eine zweite Gemeinsamkeit ist der Hang, Architektur zum Teil der Werke zu machen. Nicht nur durch Projektionen. Der japanische Designer Daito Manabe vom Rhizomatiks-Kollektiv hat für das Video zum Electro-Stück "Terminal Slam" von Squarepusher beispielsweise das Stadtbild von Tokio in einen digitalen Raum verwandelt, in dem Daten im Takt der Elektrobeats zum Leben erwachen. Erst sind es nur Rohdaten, die immer mehr Form annehmen und schließlich wie die Stacheln eines Kugelfisches aus den Glasfassaden brechen. Andere, wie der Düsseldorfer Künstler Ralf Baecker, nehmen sich den Raum ganz buchstäblich und installieren die Datenströme als physische Objekte. Christopher Bauder und sein Berliner Studio WHITEvoid formen Architektur mit Licht um.
So unterschiedlich die Bildsprachen sind, so gibt es doch ein paar Stränge, die sich durch die Arbeiten ziehen. Da ist zum einen die Technologie, die endlich an einem Punkt angelangt ist, an dem sie mit den Ideen der Kunst mithalten kann. Woran digitale Kunst lange krankte (und das immer noch in viel zu vielen Fällen tut) ist das Ungelenke, Unfertige, Unscharfe der Technologien, die noch nicht ausgereift waren. Das hielt alles lange nicht mit den schimmernden Oberflächen der digitalen Welt mit und wirkte oft misslungen. Oder es waren Technologien, die von Ingenieuren und Programmieren gestaltet wurden, deren Kunst weder die künstlerische, noch die ästhetische oder intellektuelle Fallhöhe erreichte, um über Elektronippes hinauszugehen.
Jetzt aber sind Maschinenlernen, Speicherkapazitäten und Nutzeroberflächen an einem Punkt angelangt, an dem nicht nur Ingenieure und Programmierer damit umgehen können. Für seine Arbeit "Quantum Memories" setzte Refik Anadol etwa die Algorithmen der Google Quantum-KI ein.
Wichtig: Maschinen selbst können nicht kreativ werden - sie brauchen dafür Menschen
Die andere Gemeinsamkeit, die viele der Arbeiten in dem Band verbindet, sind die organischen Formen, die entstehen, wenn Daten, KI und Kunst sich vereinen, um Neues zu schaffen. Da wölben, stülpen, entfalten sich die Datenströme in immer neuen Bewegungen, die bei aller Fremdheit vertraut sind. Und ja, die Bilder müssen sich bewegen, sind Algorithmen doch jene Handlungsanweisungen, die Maschinen mit so etwas wie Leben erfüllen, die sie dazu bringen zu sehen, zu hören, zu bewerten und Entscheidungen zu fällen. Eine Wesensform, wie es der Robotiker Murray Shanahan formuliert hat, die uns noch fremd ist und die unser Leben doch immer deutlicher bestimmt.
Wobei Christoph Grünberger da eines wichtig ist: "Nur durch die Iteration kann die Maschine lernen, was sie schaffen soll", sagt er. "Maschinen selbst können nicht kreativ werden." Dem stimmt auch Refik Anadol zu, der sagt, dass die Visualisierung dessen, was die Maschinen mit den Erinnerungen der anderen, der Menschen, anstellen, nur deswegen funktioniert, weil es auch Menschen sind, die das den Maschinen beibringen.
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So aber können die Menschen auch ihr Bilder visualisieren vom Innenleben der Maschinen, den digitalen Räumen im Cyberspace und im Metaverse, von der Matrix der Daten, die sie immer dichter umgibt. Kein Wunder also, dass die Menschen in Berlin gerade in langen Schlangen anstehen, um Refik Anadols "Maschine Hallucinations" anzusehen.
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Der Hollywoodproduzent Niels Juul will Martin Scorseses und Michael Manns nächste Filme mit NFTs produzieren. Und kann das auch erklären.
Weil die digitale Kunst endlich zum Chronist einer Gegenwart wird, in der sich Technologie in eine Sphäre der Abstraktion verabschiedet hat, die die Menschen immer erst dann verstehen, wenn mal wieder was schiefgegangen ist.
Christoph Grünberger: "The Age of Data - Embracing Algorithms in Art & Design". Niggli Verlag, Salenstein, 2021. 400 Seiten, 68 Euro.
Refik Anadol: "Machine Hallucinations: Nature Dreams". Noch bis zum Freitag, 17. Dezember, in der König Galerie Nave, Alexandrinenstraße 118-121, Berlin. Info und Videos: www.koeniggalerie.com