55. Biennale von Venedig:Goldstrahl, der ins Herz trifft

55. Venedig-Biennale

Besucher beim Presserundgang durch den "enzyklopädischen Palast" der 55. Venedig-Biennale.

(Foto: AFP)

Die berühmte Kunstausstellung in Venedig sucht mentale Bilder und findet die Kunst von Außenseitern. Ein Gang durch die Hauptschau "Der enzyklopädische Palast" von Massimiliano Gioni.

Von Kia Vahland, Venedig

Wir haben nicht vom bunten Flügelgott geträumt diese Nächte in Venedig, auch nicht von dem aufgeschlitzten Drachen oder dem Goldstrahl, der ins Herz trifft. Warum nicht? Weil man in den Köpfen der anderen nicht herumspazieren kann wie im Zentralpavillon der Kunstbiennale. Auch nicht im Schädel des Psychiaters Carl Gustav Jung (1875-1961), der seine oft angstgetriebenen Visionen mit dem Geschick eines alten Mönchs in das große rote Buch malte, das nun den Auftakt der Hauptausstellung "Der enzyklopädische Palast" von Massimiliano Gioni bildet. Den mentalen Bildern widmet sich der Parcours, den Vorstellungen also, die das Gehirn ganz ohne Pinsel und Zeichenstift erzeugt, und die eine meist hilflose Hand dann doch irgendwie auf Papier oder Leinwand bannen will. Tatsächlich hat Gioni damit das wohl letzte geheime Bilderreservoir aufgetan. Es ist allerdings deshalb kaum erschlossen, weil es so viele innere Kosmen gibt wie Menschen - jeder trägt seine eigene, anderen unzugängliche Welt mit sich herum und hält diese mit einigem Fug und Recht für das Zentrum des Universums.

Insofern kann man an dem Vorhaben nur scheitern, als Kurator oder als Kritikerin: Denn wie lassen sich solch geschlossene Systeme wie die Hirne der anderen ästhetisch fassen, gar beurteilen? Mit welchem Recht will sich der Besucher über die grell explodierende Farbpalette eines Eugene Von Bruenchenhein mokieren, wegen der man jedes ärztliche Wartezimmer fluchtartig verlassen würde? Seine Gemälde, teils hergestellt mit einem Pinsel aus dem Haar der Künstlergattin, galten nie einem größeren Publikum. Wie die meisten Kunstwerke der sogenannten Outsider Artists, von denen etliche in Venedig zu sehen sind, zehren sie von den jeweiligen Zwangsvorstellungen ihrer Macher.

Gerade das macht diese Kunst heute für Großausstellungen so attraktiv: Endlich sind da Arbeiten, die keinem Kalkül und keiner Mode gehorchen, keiner Preislogik und auch nicht den Wünschen von Kuratoren. Tatsächlich findet man im abendländischen 19. und 20. Jahrhundert wenige andere Künstler, die sich so konsequent vom ästhetischen Kanon lossagen, wie es manche psychisch Kranke tun mit ihren Monstern und Ornamenten, ihrer Ignoranz für Perspektive und Komposition.

Und womit kann ein Kurator heute noch schockieren, wenn wir schon Jonathan Meeses Hitler-Gebaren und Tracey Emins ungemachtes Bett kennen? Gioni versucht es mit überdimensionalen Tarotkarten, wie sie Aleister Crowley und Frieda Harris 1938 entwarfen. Mit den filigranen Mystizismen eines Augustin Lesage, dem eine Geisterstimme in den Zwanzigerjahren Größe und Aufwand seiner vor Erhabenheit strotzenden Sakralgemälde diktierte. Mit den technologisch exakten Skizzen auf Millimeterpapier, mit denen die telepathisch begabte Heilerin Emma Kunz von 1939 an "negative Energien" ihrer Klienten bannen wollte. Auch die Schwedin Hilma af Klint, die gerade wiederentdeckte Frühabstrakte, verstand sich als Medium und gehört in die Reihe der modernen Spiritualisten.

Gleichgültig, ob es sich um esoterisch anmutende Bildfindungen handelt, um die schillernde Steinesammlung von Roger Caillois oder um Morton Bartletts Puppenarmee pubertierender Mädchen: Was im Museumssaal hängt oder steht, verändert seinen Charakter, ist nun Kunst und verdient einen zweiten Blick. Den fordert Gioni ein, indem er dem anderen großen Schauplatz, dem Arsenale, seine backsteinerne Schroffheit nimmt und weiße Wände einzieht. So gleitet der Besucher an beiden Orten gleichermaßen von Raum zu Raum, er gibt sich dem glänzend inszenierten Zusammenspiel von In- und Outsiderwerken hin, von etablierten und jungen Positionen.

Der Videokünstler Bruce Nauman darf noch einmal schreien, die große alte Malerin Maria Lassnig ihre Pistole im Selbstporträt entsichern, und dazwischen jault raumfüllend die abgewrackte Installation der Youtube-Filmemacherin Ryan Trecartin, die das psychotische Potenzial jüngerer Fernsehformate vorführt. Doch nichts bedroht, nichts beengt. Die Präsentation der Kabinette ist elegant, geräumig und besonnen. Der Wahn, eigentlich doch ein gieriger Tyrann, er greift nie über auf Schrittfolge und Herzrhythmus der Besucher. Ihnen bleibt hier immer die Chance auf schützende, nachdenkliche Distanz.

Halt in inneren Bildern

Diese Biennale will nicht überwältigen wie die vorletzte Ausgabe und sich nicht anschmiegen wie die Schau vor zwei Jahren, die sich mit besserer Wohnzimmerkunst begnügte. Sie spitzt vielmehr ein Grundgefühl zu, das die Kasseler Documenta im vergangenen Sommer noch etwas zerstreut hier und da antippte: den Verdacht, dass wir uns in einem Zustand der Schwebe befinden, in dem die Konturen unserer Glaubenssätze und Gewohnheiten verschwimmen wie der Horizont über der Lagune im Gewitterlicht.

Pinacoteca Agnelli and Metro Pictures - The 55th International Art Exhibition - 2013 Venice Biennale

Massimiliano Gioni bei der Venedig-Biennale.

(Foto: Getty Images)

Schon einmal verloren Leben und Kunst auf hoher See den Gleichgewichtssinn und suchten Halt in inneren Bildern. Das war um 1930, als der Surrealismus die Geometrien der abstrakten Malerei in wilde Verschlingungen auflöste, in eine Kunst, in der die Formen nicht aneinander grenzen, sondern sich gegenseitig verspeisen und verdauen. Alles Innere kehrt sich scheinbar nach außen, wie heute wieder bei Paul McCarthys Fund einer überlebensgroßen aufgeschlitzten Anatomielehrpuppe, die quer durch das Arsenale grinst.

Sigmund Freud sagte Salvador Dalí im Jahr 1938 auf den Kopf zu, seine Bilder handelten nicht vom Unbewussten, sondern vom Bewussten. Gemeint war, dass sich der fleißige Leser-Maler das Handwerkszeug der Psychoanalyse bereits zu eigen gemacht hatte und so zu einem spielerischen Umgang mit individuellen und kollektiven Neurosen fand. Die jetzige Biennale ignoriert nicht zufällig ausgerechnet die beiden Urväter Freud und Dalí. Nicht erwünscht sind hier ihre jeweiligen Bemühungen, noch den bedrohlichsten Irrsinn durch Vernunft zu ordnen. Statt Freud tritt dessen Widersacher Jung auf, und zwar mit seinen Halluzinationen: Der Psychiater ist dieser Biennale lediglich als Patient willkommen. Keineswegs präzisieren sich Jungs wissenschaftliche Ideen; sein Schlagwort vom kollektiven Unbewussten etwa bleibt wabernd und vage, denn was wäre es, was all diese so unterschiedlichen mentalen Welten verbinden sollte - außer ihrer Musealität?

Nicht hinabsteigen in die Abgründe seelischer Störungen

Dalí, ohne den der Surrealismus nicht denkbar ist, wird in der Schau durch seinen Widersacher André Breton ersetzt, der gleich hinter Jungs rotem Buch im Eingang als Lebendmaske zu sehen ist und später noch einmal mit seiner Privatsammlung an Fetischen einen großen Auftritt im Film von Ed Atkins hat. Der Dichter Breton setzte noch auf die passive Methode des automatischen Schreibens und Malens, als Dalí längst wusste, wie man sich als polymorph perverser Akteur aktiv in Szene setzt. Und wo der Künstler während der Nazizeit im historischen Vorgriff auf Klaus Theweleits NS-Analyse "Männerphantasien" (1978) über die verführerische, männerbündische Gruppendynamik des Hitlerismus nachdachte, rief Breton noch in klassischer Freund-Feind-Logik zur antifaschistischen Einheitsfront.

Die jetzige Biennale will nicht wirklich hinabsteigen in die realiter wenig attraktiven Abgründe seelischer Störungen, sie verklärt sie lieber als sympathische Verschrobenheiten. Denn die Schau braucht die Abweichung von der Norm als positive Folie für eine Gesellschaftsanalyse der eigenen Art. Der - ausgeruhte, auf- und anregende - Parcours in Venedig beschwört das innere Erleben, um die immer noch handgemachte bildende Kunst als einzig denkbare Alternative aufzubauen gegen das, was Medienkritiker gerne "Bilderflut" nennen: die anschwellende Bildermasse im Internet, im Fernsehen und im öffentlichen Raum.

Es geht in Venedig gegen ein Übermaß an Fotografien, Filmen und virtuellem Design, gegen Bilder, die sich in ihrer maßlosen kommerziellen Vervielfältigung vom Individuum lösen und ihm so das eigene Spiegelbild entfremden. Sich gegen diesen gewalttätigen Mechanismus externer Bilder in unserer Zeit aufzubäumen, ist berechtigt. Und vielleicht hat die Biennale recht, vielleicht sind ja verknotete Schlangen, erledigte Drachen und blau sprießende Lebensbäume zwar nicht sehr erhellend, aber immer noch besser als die innere Leere, die sich einstellen würde, gäbe es nur noch allgemeingültige äußere Bilder auf der Welt.

Der enzyklopädische Palast, Biennale Venedig, bis 24. November, www.labiennale.org.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: