Biennale in Venedig:Ein Totenschiff, das zum Voyeurismus zwingt

Art Biennale Venedig 2019

"Barca Nostra": Das Flüchtlingsschiff havarierte im Jahr 2015 vor Lampedusa, Hunderte Menschen starben. Der Künstler Christoph Büchel schleppte das Wrack zur Biennale nach Venedig.

(Foto: dpa)

Auf der Biennale sind gehäkelte Korallen, Schrott aus Luxusjets und immer wieder das Meer als Motiv zu sehen. Und ein Kunstwerk, das hier nicht hergehört.

Von Catrin Lorch, Venedig

Das tunesische Flüchtlingsboot liegt jetzt in Venedig. Als es 2015 vor Lampedusa havarierte, starben mehr als 800 Migranten aus Afrika. Nun hat es der Künstler Christoph Büchel in den Arsenale verfrachtet und auf einem Sattelschlepper am Rand eines Hafenbeckens abgestellt. Als Boot mit einem Loch in der Seite fällt es auf dem Werftgelände kaum auf. Der Künstler hat zudem darauf verzichtet, ein Schild mit Werkangaben aufzustellen. Werk oder Wrack? Büchel äußert sich zu dem Projekt nicht.

Dass der 1966 geborene Schweizer es tatsächlich als Kunstwerk reklamiert, macht er im Katalog der Hauptausstellung der Biennale in Venedig klar, die in diesem Jahr unter dem Motto "May You Live In Interesting Times" steht - mögest du in interessanten Zeiten leben. Unter dem Titel "Barca Nostra 2018-2019" finden sich im Katalog Maße - "2250 x 710 x 860" - und Material: "Schiffswrack 18. April 2015". Im begleitenden Text skizziert Büchel die Geschichten, von der Havarie des Fischerbootes, in dessen Rumpf libysche Menschenschmuggler viele Hundert Flüchtlinge gepfercht hatten, über die millionenteure Bergung bis zur forensischen Untersuchung der Leichen. Seither werde auf Sizilien darüber diskutiert, ob das Wrack in Augusta als Monument in einem "Garten der Erinnerung" aufgestellt werden sollte oder ob man es nicht - wie etwa der PD-Politiker und ehemalige Ministerpräsident Matteo Renzi vorschlug - besser als Mahnmal für den "Skandal der Migration" nach Brüssel bringen sollte.

Unweit des malerischen mittelalterlichen Arsenale liegt die Kaffeebar, wo während der Vernissage andere Künstler vor Mikrofonen über ihre Arbeiten sprechen. Kameras werden aufgestellt, das Publikum flaniert in Sommerkleidern durch den Sonnenschein, eine Gruppe Journalisten sucht den chinesischen Pavillon, ältere amerikanische Sammler fahren in Elektrowagen zu Cocktailempfängen. Aber vom Wrack aus betrachtet, von diesem Sarg, verändert sich alles. Die Vernissage, die Biennale, sogar die Sonne erscheinen diskreditiert.

Biennale in Venedig: Ralph Rugoff, der Kurator der 58. Kunst-Biennale in Venedig.

Ralph Rugoff, der Kurator der 58. Kunst-Biennale in Venedig.

(Foto: Tiziana Fabi/AFP)

Weil sich weder der Künstler zu seinem Werk äußert noch Biennale-Kurator Ralph Rugoff auf Interviewanfragen antwortet, zitiert die Presse vor allem die Kuratorin Chiara Di Trapani, die mit Christoph Büchel zusammenarbeitet. Sie hoffe, das Publikum werde sich respektvoll verhalten und das Boot "in aller Stille betrachten", sagt sie. Wie die Kriegsfotografien, die Susan Sontag in "Das Leiden anderer betrachten" beschreibt, lässt einem das Wrack nicht einmal die Wahl "zum Betrachter zu werden oder zum Feigling, der nicht hinschauen kann". "Barca Nostra" ist ein Tatort, ein Mordwerkzeug, man kann es gar nicht betrachten. Denn es zwingt nicht zum Hinsehen, in diesem metaphorischen Sinn, es zwingt zum Voyeurismus.

Dürfen Berichterstatter die "Barca Nostra" behandeln wie jedes andere Kunstwerk, es einhüllen in Kritik und Beobachtungen und Anekdoten? Chiara Di Trapani berichtet bereitwillig von den Schwierigkeiten bei der Kunstwerdung des Wracks, das offiziell dem Verteidigungsministerium gehörte, von Einfuhrproblemen in Venedig. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet, dass Büchel es gekauft habe - wäre es da nicht angemessen, bei seiner Galerie Hauser & Wirth nach dem aktuellen Preis dieser Skulptur zu fragen? Kann man sie in die Werkreihe eines Künstlers einsortieren, der in Belgien in einem Museum ein Flüchtlingslager einrichtete und vor zwei Jahren in Venedig als Beitrag Islands zur Biennale in einer katholischen Kirche eine Moschee unterbrachte (die kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen wurde). Muss man - wieder einmal - nach der Freiheit der Kunst fragen?

Es ist abzusehen, dass die Medien reagieren werden, wie bei jenem Foto von Ai Weiwei, der sich im Jahr 2016 an einem Strand in der Pose des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi fotografieren ließ. Es dürfte Interpretationen und Diskussionen geben. Zwar ist man in Deutschland schon fast abgestumpft durch die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit, doch man ahnt: "Barca Nostra" ist das Werk, das in Erinnerung bleiben wird vom Kunstsommer 2019. Das Boot ist immer dabei, man schleppt es in Gedanken mit durch die Hallen und Pavillons. Rugoff hat der Ausstellung eine Arbeit untergeschoben, die alles verändert - als ließe ein Regisseur im Theater eine Leiche auftreten.

Wussten die anderen Künstler davon, als sie ihre Beiträge - dem Kurator vertrauend - ein paar Meter weiter in der mittelalterlichen Seilerei installierten? Der amerikanische Maler George Condo beispielsweise hat in der gewaltigen Eingangsrotunde ein bis unter die Decke reichendes Gemälde "Double Elvis" gehängt. Es ist ein in silberner Helligkeit fast auftrumpfendes Meisterwerk, das sich allein auf Kunst - nämlich auf Andy Warhols gleichnamigen Siebdruck - beruft, sich selbstvergessen aus der Geschichte der Malerei nährt, daraus, dass Kunst immer eine Antwort auf Kunst ist, ihr Nachhall. Es ist davon auszugehen, dass Rugoff den Amerikaner nicht warnte, dass sein Bild nun wie ein Gegenpol zur "Barca Nostra" wirkt, dass er mit seiner Hängung die Kulisse der unbekümmerten Kunstausstellung gibt.

Christoph Büchel zehrt so von der Unterstellung, dass sich die Öffentlichkeit und die Kunstszene nicht ausreichend für das Elend interessieren, dass andere Künstler blind sind für die zeitgenössischen Krisen. Dabei gibt es viele, die, wie das Kollektiv "Forensic Architecture", seit Jahren von den Zusammenhängen berichten, die zu solchen Havarien führen, politische Entwicklungen nachzeichnen, die Aktivitäten von Grenzschützern und der Seenotrettung recherchieren, Fakten prüfen, "Reports" an Medien und Gerichte übergeben. Statt einfach nur das Grauen auszustellen.

Als häufigstes Motiv ist das Meer zu sehen

Auf dieser Biennale ist die Kunst an der Lagune politisch wach, berichtet von den politischen und ökologischen Katastrophen der Welt. Nicht nur im deutschen Pavillon, der sich zum "Ankerzentrum" erklärt hat und den "ruinösen" Begriff der nationalen Repräsentation ausforscht. In den amerikanischen Pavillon, den die Trump-Regierung zunächst gar nicht bespielen wollte, stellt der Afroamerikaner Martin Puryear eine kolossal vergrößerte phrygische Mütze - ein vielfach konnotiertes Freiheits- und Unabhängigkeitssymbol.

Im polnischen Pavillon hat Roman Stańczak einen Luxusjet, den Familienschlitten der Superreichen, ausgeweidet und auf den Rücken abgelegt, als immobiles Wesen. Ein Haufen aus festgefressenem Stahl, Reifengummi, Kabeln und Kunstleder. Wie die Motorräder, die von der deutschen Bildhauerin Alexandra Bircken sauber zerschnitten und verdreht zusammengesteckt werden. Vor dem Metallschrott kann man die Epoche der Bewegung sanft austuckern lassen, die Ära des ressourcenverschlingenden "Jettens". Und das Meer ist eines der häufigsten Motive, als historischer Schauplatz, als Grenze und politisch vermintes Terrain. Aber auch als gefährdete Welt von eigener Schönheit, die Laure Prouvoust im französischen Pavillon in eine kitschige Multimedia-Installation verwandelt, an deren Fragilität die meterlangen, aus buntem Garn gehäkelten Korallenriffe der Australierinnen Christine und Margaret Wertheim erinnern.

Biennale in Venedig: Roman Stańczaks Luxus-Schrott-Jet im polnischen Pavillon.

Roman Stańczaks Luxus-Schrott-Jet im polnischen Pavillon.

(Foto: Tiziana Fabi/AFP)

Dass sich so viele Künstler in den Pavillons der Auseinandersetzung mit einer als Endzeit empfundenen Gegenwart stellen, macht die Qualität dieser Biennale aus, während ausgerechnet die streng kuratierte Großausstellung bizarr wirkt. Ralph Rugoff hat viel Aufhebens darum gemacht, dass er nur wenige Künstler eingeladen hat und sie zwei verschiedene Ausstellungen einrichten ließ. Gekommen sind viele internationale Stars und mehr als ein Dutzend chinesische Künstler, die kaum einer kennt. Diese Auswahl hat Rugoff dicht, aber beziehungslos über die Säle verteilt. Irgendwo rappelt es immer. Eine elektrifizierte Kuh saust auf Schienen im Kreis. Ein von Roboterarmen animierter Pinsel, breit wie eine Baggerschaufel, rührt in einer blutigen Pfütze.

In dem Durcheinander kann sich nur behaupten, wer, wie die Videoprojektionen, eine eigene, dunkle Kabine zugeteilt bekam - wie Kahlil Joseph, der mit "BLKNWS" einen utopischen, schwarzen News-Kanal simuliert. Oder die hellsichtigen Videocollagen von Arthur Jafa, die den alltäglichen Rassismus des Westens noch einmal mit "The White Album" ausbuchstabieren.

Einige Künstler grenzen sich mit Mauern ab: In den Einbauten, die der Architekt David Adjaye für Ghana aus ockerfarbenem Lehm in den Arsenale setzte, können El Anatsui, John Akomfrah und Lynette Yiadom-Boakye ein Bild vom afrikanischen Kontinent ausstellen, das nicht von Armut oder Naturkatastrophen bestimmt ist - sondern einfach große Kunst ist.

Biennale in Venedig: "Mondo Cane", die Installation von Jos de Gruyter und Harald Thys für den belgischen Pavillon.

"Mondo Cane", die Installation von Jos de Gruyter und Harald Thys für den belgischen Pavillon.

(Foto: Nick Ash)

Ralph Rugoff als Kurator dagegen hat sich auf geradezu auffällige Weise nicht darum bemüht, seine Künstler angemessen zu präsentieren. Wahrscheinlich weil er wusste, dass seine Biennale ohnehin von dem einen Bild beherrscht sein wird, von Büchels "Barca Nostra". Italienische Politiker von der rechtspopulistischen Lega wie der Venezianer Roberto Ciambetti forderten unverzüglich ihre Demontage, was der Präsident der Biennale, Paolo Barratta, sogleich mit den Worten konterte, es sei deren Auftrag, "das Gewissen anzusprechen".

Dabei wirkt "Barca Nostra" selbst vollkommen gewissenlos. Als Luc Tuymans im Jahr 1986 eine Gaskammer malte, galt das noch als Tabubruch. Gerhard Richter hat sich über Dekaden mit Fotografien aus dem Vernichtungslager Birkenau beschäftigt, sie schlussendlich mit Farbe zugedeckt. Aber es scheint, als gälten andere Regeln, wenn es um die Vernichtung von Armen geht, um tote schwarze Körper.

Es ist an der Zeit, dass sich die Kunst selbst gegen die Vermarktung des Grauens abgrenzt. Die Ersten, die protestierten, waren Künstler: "Die gleiche bescheuerte 'Qualität' der Kunst wie Ai Weiwei", lautete einer der Kommentare. Julieta Aranda postet, dass man sich als Künstler nicht "eine Brücke auf den Rücken anderer Körper bauen sollte". Schon vor der Eröffnung der Biennale wurden Boykottaufrufe laut.

Zeitgenössische Künstler haben erst in diesem Frühjahr mit Boykottdrohungen dafür gesorgt, dass große Museen sich von ihren Sponsoren trennten. In Venedig können jetzt allein die Künstler eine Diskussion mit Ralph Rugoff erzwingen: indem sie mit Abbau drohen. Sie allein haben die Macht, dem Boot die Nachbarschaft ihrer Werke, dem Skandal die Kunst zu entziehen.

Biennale di Venezia. Bis 24. November. www.labiennale.org.

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