Das tunesische Flüchtlingsboot liegt jetzt in Venedig. Als es 2015 vor Lampedusa havarierte, starben mehr als 800 Migranten aus Afrika. Nun hat es der Künstler Christoph Büchel in den Arsenale verfrachtet und auf einem Sattelschlepper am Rand eines Hafenbeckens abgestellt. Als Boot mit einem Loch in der Seite fällt es auf dem Werftgelände kaum auf. Der Künstler hat zudem darauf verzichtet, ein Schild mit Werkangaben aufzustellen. Werk oder Wrack? Büchel äußert sich zu dem Projekt nicht.
Dass der 1966 geborene Schweizer es tatsächlich als Kunstwerk reklamiert, macht er im Katalog der Hauptausstellung der Biennale in Venedig klar, die in diesem Jahr unter dem Motto "May You Live In Interesting Times" steht - mögest du in interessanten Zeiten leben. Unter dem Titel "Barca Nostra 2018-2019" finden sich im Katalog Maße - "2250 x 710 x 860" - und Material: "Schiffswrack 18. April 2015". Im begleitenden Text skizziert Büchel die Geschichten, von der Havarie des Fischerbootes, in dessen Rumpf libysche Menschenschmuggler viele Hundert Flüchtlinge gepfercht hatten, über die millionenteure Bergung bis zur forensischen Untersuchung der Leichen. Seither werde auf Sizilien darüber diskutiert, ob das Wrack in Augusta als Monument in einem "Garten der Erinnerung" aufgestellt werden sollte oder ob man es nicht - wie etwa der PD-Politiker und ehemalige Ministerpräsident Matteo Renzi vorschlug - besser als Mahnmal für den "Skandal der Migration" nach Brüssel bringen sollte.
Unweit des malerischen mittelalterlichen Arsenale liegt die Kaffeebar, wo während der Vernissage andere Künstler vor Mikrofonen über ihre Arbeiten sprechen. Kameras werden aufgestellt, das Publikum flaniert in Sommerkleidern durch den Sonnenschein, eine Gruppe Journalisten sucht den chinesischen Pavillon, ältere amerikanische Sammler fahren in Elektrowagen zu Cocktailempfängen. Aber vom Wrack aus betrachtet, von diesem Sarg, verändert sich alles. Die Vernissage, die Biennale, sogar die Sonne erscheinen diskreditiert.
Ralph Rugoff, der Kurator der 58. Kunst-Biennale in Venedig.
(Foto: Tiziana Fabi/AFP)Weil sich weder der Künstler zu seinem Werk äußert noch Biennale-Kurator Ralph Rugoff auf Interviewanfragen antwortet, zitiert die Presse vor allem die Kuratorin Chiara Di Trapani, die mit Christoph Büchel zusammenarbeitet. Sie hoffe, das Publikum werde sich respektvoll verhalten und das Boot "in aller Stille betrachten", sagt sie. Wie die Kriegsfotografien, die Susan Sontag in "Das Leiden anderer betrachten" beschreibt, lässt einem das Wrack nicht einmal die Wahl "zum Betrachter zu werden oder zum Feigling, der nicht hinschauen kann". "Barca Nostra" ist ein Tatort, ein Mordwerkzeug, man kann es gar nicht betrachten. Denn es zwingt nicht zum Hinsehen, in diesem metaphorischen Sinn, es zwingt zum Voyeurismus.
Dürfen Berichterstatter die "Barca Nostra" behandeln wie jedes andere Kunstwerk, es einhüllen in Kritik und Beobachtungen und Anekdoten? Chiara Di Trapani berichtet bereitwillig von den Schwierigkeiten bei der Kunstwerdung des Wracks, das offiziell dem Verteidigungsministerium gehörte, von Einfuhrproblemen in Venedig. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet, dass Büchel es gekauft habe - wäre es da nicht angemessen, bei seiner Galerie Hauser & Wirth nach dem aktuellen Preis dieser Skulptur zu fragen? Kann man sie in die Werkreihe eines Künstlers einsortieren, der in Belgien in einem Museum ein Flüchtlingslager einrichtete und vor zwei Jahren in Venedig als Beitrag Islands zur Biennale in einer katholischen Kirche eine Moschee unterbrachte (die kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen wurde). Muss man - wieder einmal - nach der Freiheit der Kunst fragen?
Es ist abzusehen, dass die Medien reagieren werden, wie bei jenem Foto von Ai Weiwei, der sich im Jahr 2016 an einem Strand in der Pose des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi fotografieren ließ. Es dürfte Interpretationen und Diskussionen geben. Zwar ist man in Deutschland schon fast abgestumpft durch die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit, doch man ahnt: "Barca Nostra" ist das Werk, das in Erinnerung bleiben wird vom Kunstsommer 2019. Das Boot ist immer dabei, man schleppt es in Gedanken mit durch die Hallen und Pavillons. Rugoff hat der Ausstellung eine Arbeit untergeschoben, die alles verändert - als ließe ein Regisseur im Theater eine Leiche auftreten.
Wussten die anderen Künstler davon, als sie ihre Beiträge - dem Kurator vertrauend - ein paar Meter weiter in der mittelalterlichen Seilerei installierten? Der amerikanische Maler George Condo beispielsweise hat in der gewaltigen Eingangsrotunde ein bis unter die Decke reichendes Gemälde "Double Elvis" gehängt. Es ist ein in silberner Helligkeit fast auftrumpfendes Meisterwerk, das sich allein auf Kunst - nämlich auf Andy Warhols gleichnamigen Siebdruck - beruft, sich selbstvergessen aus der Geschichte der Malerei nährt, daraus, dass Kunst immer eine Antwort auf Kunst ist, ihr Nachhall. Es ist davon auszugehen, dass Rugoff den Amerikaner nicht warnte, dass sein Bild nun wie ein Gegenpol zur "Barca Nostra" wirkt, dass er mit seiner Hängung die Kulisse der unbekümmerten Kunstausstellung gibt.
Christoph Büchel zehrt so von der Unterstellung, dass sich die Öffentlichkeit und die Kunstszene nicht ausreichend für das Elend interessieren, dass andere Künstler blind sind für die zeitgenössischen Krisen. Dabei gibt es viele, die, wie das Kollektiv "Forensic Architecture", seit Jahren von den Zusammenhängen berichten, die zu solchen Havarien führen, politische Entwicklungen nachzeichnen, die Aktivitäten von Grenzschützern und der Seenotrettung recherchieren, Fakten prüfen, "Reports" an Medien und Gerichte übergeben. Statt einfach nur das Grauen auszustellen.