Sie gehören so unverzichtbar zu jeder Biennale von Venedig wie die überfüllten Wasserbusse und die Ozeane an Aperol, die hier nach dem Kunstanschauen weggetrunken werden: die Beteuerungen, dass erstens die nationale Selbstdarstellung in den Pavillons der teilnehmenden Länder als Vorstellung grundsätzlich von gestern sei. Zweitens auch die Idee, dass man Kunst fachrichterlich bewerten könne, als wäre es ein Wettbewerb im Bodenturnen.
Genauso unverzichtbar gehören dann aber auch die besonders langen Schlangen vor den Länderpavillons dazu und das allgemeine Herumorakeln, wen die Jury mit Goldenen Löwen prämieren wird. Die Jury schweigt aber grundsätzlich solange, bis die Orakelnden nach den Tagen der Vorbesichtigung erschöpft wieder abgereist sind. Dann erst verkündet sie. Und dann bekommt all das, worauf es angeblich vorher gar nicht sehr ankommt, doch wieder eine große Bedeutung.
Am Wochenende verkündete die Jury: Der Goldene Löwe für den ihrer Ansicht nach besten nationalen Pavillon geht an Großbritannien und Sonia Boyce, der Goldene Löwe für den besten teilnehmenden Künstler in der internationalen Ausstellung der Biennale an die Amerikanerin Simone Leigh. Einer fürs Lebenswerk geht jeweils an die Deutsche Katharina Fritsch und an Cecilia Vicuña aus Chile. Einen Nachwuchs-Löwen gab es für Ali Cherri aus Libanon.
Das russische Haus bleibt aus Scham über sich selbst gleich ganz zu
Letzter zeigt einen der wenigen Filme auf dieser früher oft von Video-Installationen dominierten Biennale. Es geht in langen, poetischen Bildern um das Kneten von Lehmziegeln bei einem Staudammbau im Sudan und um das mythische Potential dieses archaischen Materials. Von Fritsch wird die hyperrealistische Skulptur eines mindestens lebensgroßen Elefanten gezeigt, eine Arbeit aus den Achtzigerjahren, die im Kontext der Ausstellung in den Giardini auf einen lange vor Gründung der Biennale hier angeblich einst beheimateten Elefanten hinweisen soll, sowie auf das Matriarchat, das bei diesen Tieren herrscht. Vicuñas Bilder bringen, sehr kurz gesagt, präkolumbianische Bilderwelten und Mythen feministisch in Stellung. Diese Prämierungen setzen klar die inhaltlichen Schwerpunkte der Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani fort.
Und der Löwe für Leigh? Leigh hat auch den Pavillon der USA mit ihren großen, Europas Heldendenkmal-Kultur persiflierenden Bronzefiguren von schwarzen Frauenfiguren ausgefüllt und ihn äußerlich in eine afrikanische Strohhütte verwandelt. Prämiert im engeren Sinne wird sie aber für eine Skulptur, die die Biennale-Ausstellung in den Arsenale eröffnet und die vor ein paar Jahren zuerst auf der New Yorker Highline zu sehen war. Deren Kunstprogramm wurde damals ebenfalls von Cecilia Alemani kuratiert. Hoch über der 10th Avenue türmte sich da auf einmal eine archaisierende schwarze Frauenfigur mit einem Reifrock als Unterbau, der an eine afrikanische Basthütte erinnern sollte. (Was sich in Venedig weniger mitteilt, aber in den USA eine Rolle spielt: Repräsentation durch abstraktere Denkmale im öffentlichen Raum wird von den Communities oft eher abgelehnt, es besteht offenbar ein Interesse an Figurationen, die den heroischen Bronzestandbildern weißer Kolonialherren sozusagen in der entsprechenden Tonart antwortet.) Sonia Boyce wiederum ist Britin mit karibischen Wurzeln. Ihr Pavillon will die Kraft weiblicher Stimmen feiern; das geschieht mit einer aufwendigen Sound-Installation sowie mit Postern, auf denen viel der Sängerin Tanita Tikaram gehuldigt wird.
Meldungen, wonach "die Biennale" hier in erster Linie "schwarze Künstlerinnen" habe ehren wollten, stellt Fragen von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen arg über die Qualität ihrer künstlerischen Beiträge. Zumal es an hochklassiger Kunst gerade von schwarzen Frauen aller möglichen Herkünfte und Staatsangehörigen bei dieser Biennale auch sonst nicht mangelt. Dass auf diese Weise aber nun mit Großbritannien und den USA ausgerechnet gleich zweimal der Inbegriff dessen triumphiert, was früher mal als imperialistische Nation galt, ist eine Pointe, wie sie auch nur die Miniaturweltgemeinschaft von Venedig so hübsch hinkriegt. Frankreichs Pavillon hat immerhin eine "lobende Erwähnung" erhalten, für eine Installation und Performance, die sich mit dem algerischen Erbe in Frankreich befasst. Und der russische Pavillon bleibt aus Scham über die Aktualität des eigenen Imperialismus sinnigerweise gleich ganz geschlossen. Manchmal, aber auch wirklich nur manchmal, passt ein einzelner Wachmann ein bisschen auf, dass er nicht verunstaltet wird.
"Die Deutschen", um einmal im etwas essentialistischen Tonfall besonders dieser Ausgabe der Biennale zu bleiben, die Deutschen müssen nun mal damit leben, dass in den Gassen von Venedig seit Jahren der etwas unfaire Witz kursiert, wonach sich beim deutschen Pavillon jedes Mal nur eine Frage stelle: Beschäftigt er sich schon wieder mit sich selbst und seiner Geschichte - oder gewinnt er den Goldenen Löwen? Dass mal beides auf einen Streich gelang, ist jetzt halt schon eine ganze Weile her. Aber über die der letzten Jahre gibt es seit eben auch ein empfehlenswertes Buch vom Institut für Auslandsbeziehungen bei Schirmer Mosel.
Denn trotzdem bleibt es insgesamt ein Segen, dass sich immer noch und immer wieder so viele Staaten einen Pavillon hier leisten. Das macht Venedig erst zur einzigen wirklichen Weltkunstausstellung. Überall sonst dominiert ein Kurator, ein Kuratorenteam, eine Sicht auf die Welt und die Dinge, hier hingegen viele. Deshalb zum Abschluss noch eine Empfehlung, die weniger mit schwarzen Frauen zu tun hat, mehr mit schwarzen Mädchen (und Jungen, außerdem weißen, asiatischen, lateinamerikanischen): Im belgischen Pavillon zeigt Francis Alÿs eine Auswahl seiner Filme von spielenden Kindern. Klügeres, Anrührenderes, auch Politischeres kann man über die Welt und die Zeiten, in der sie jeweils leben, fast gar nicht erzählen. Und für die Daheimgebliebenen zeigt Alÿs sie außerdem auch online.