Süddeutsche Zeitung

Biennale München:Weihwasser und Sparwasser

Unter silbrigen Himmeln, in U-Bahn-Schächten und im Olympiastadion verwandelt die Kunst-Biennale "Game Changers" München in einen Performance-Parcours.

Von Catrin Lorch

Was im Fußball das Fantrikot ist, sind in der Kunst die bedruckten Baumwolltaschen, die während der Eröffnungstage von Ausstellungen ausgegeben werden, meist als Verpackung für Pressemappen oder Kataloge. Fast jeder hier hat so eine umhängen. D14 steht auf einer, die jemand in Athen eingesammelt haben muss während der Documenta. Die Frau, die neben ihm auf der Patchworkdecke im Gras sitzt, wühlt in einem Beutel mit dem Logo der Kunstakademie Lyon, daneben liegt der Rucksack mit Anne-Imhof-Aufdruck, der im vergangenen Sommer im deutschen Pavillon in Venedig ausgegeben wurde. Der reisefreudige Tross der Kunstszene hat sich offensichtlich nach München in Bewegung gesetzt - um es sich auf Bierbänken eines verrümpelten Gärtchens gemütlich zu machen. Denn die aktuelle Ausgabe der Biennale "Public Art in Munich" unter dem Titel "Game Changers" eröffnet am Rand der Stadt, im Garten der Ost-West-Friedenskirche.

"Gold für Natascha, Silber für Timofei" ist das Motto in der Ost-West-Friedenskirche

Diese Kirche "klein" zu nennen, wäre eine Untertreibung. Sie hat die Maße einer Schrebergartenhütte und wurde Anfang der Fünfzigerjahre von dem selbsternannten russischen Eremiten "Väterchen Timofeij" auf den Schuttbergen im Norden der Stadt errichtet, buchstäblich aus den herumliegenden Trümmern. Als dann der Architekt Günter Benisch dort die Stadien für die Olympischen Spiele 1972 plante, war er von dem mit religiösen Krimskrams vollgestopften Schwarzbau so beeindruckt, dass er seine Blaupausen überarbeitete und einen Abriss vermied. Der Legende nach hat die von Väterchen Timofei mit Schokoladenstanniol verkleidete Kirchendecke gar die ikonische, silbrig schimmernde Dachkonstruktion von Frei Otto und Günter Benisch inspiriert.

Die Taschen, die zur Vernissage der Public Art in Munich ausgegeben werden, sind orange und pink, und dass kaum einer den Slogan der Vorgängerschau "A Space Called Public" in der Hand hält, wen wundert es? Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen zwischen der letzten Ausgabe, die vor zwei Jahren vom Künstlerduo Elmgreen & Dragset als international besetzte Sause von Superkünstlern organisiert wurde, und der aktuellen Schau. Denn mit der polnischen Kuratorin Joanna Warsza hat man nun das Gegenmodell eingekauft. Sie will all den Biennalen und Stadtkunst-Ausstellungen Kontra geben, die einen Sommer lang wie vom Himmel gefallene Skulpturen in Fußgängerzonen vor sich hin rotten lassen. Stattdessen hat sie für "Game Changers" einen Parcours für Performances abgesteckt, den man sich wie ein Theaterfestival vorstellen muss, bei dem jede Woche ein, zwei Premieren stattfinden, aber ohne Folgeaufführungen. Einzige Konstante der Schau ist ein Pavillon der Künstlerin Flaka Haliti auf dem Viktualienmarkt, in dem Dokumentationen zu sehen sind.

Joanna Warsza versteht sich nicht nur als Kunstkuratorin, sondern als Kuratorin der Stadt. Neben Spielorten wie den großen Sportstadien, der Theresienwiese, Luxushotels, U-Bahn-Schächten, dem Amerikahaus und der Kunstakademie hat sie - gegen die München-Klischees - auch "widerständige und anarchische Ecken" ausgemacht. Wie etwa diesen überkonfessionellen Schwarzbau, in dem sich jetzt unter dem Titel "Gold für Natascha, Silber für Timofei" über jedem Eintretenden eine hauchzarte silberne Decke hebt und senkt. Die Künstlerin und Architektin Aleksandra Wasilkowska, Autorin eines Buches über "Schattenarchitektur", diskutiert derweil unter blühenden Bäumen mit dem "spirituellen Nachfolger von Väterchen Timofei", einem bulligen Mann mit Pilotenbrille, über Avantgarde aus Müll, die Wohnungsnot, die aktuelle Entsäkularisierung der Politik und darüber, dass man in Bayern wieder Kreuze aufhängt in Behörden.

Zur nächsten Station der Biennale brechen alle gemeinsam in einer Prozession auf, denn das Sit-in im Kirchengarten war nur ein Vorspiel, die Stadtkunstschau setzt durchaus aufs große Format. Anpfiff ist im Olympiastadion, wo Massimo Furlan ein Reenactment der Partie zwischen der DDR und der BRD bei der Weltmeisterschaft im Jahr 1974 aufführt. Zum Konzept gehört, dass jede Mannschaft durch nur einen Spieler repräsentiert wird. Der Künstler hat den ehemaligen Volksbühnen-Schauspieler Franz Beil für die Rolle des legendären Jürgen Sparwasser gewinnen können, der unerwartet kurz vor Schluss das Spiel mit seinem Tor zum 1:0 für die DDR entschied. Furlan selbst gibt Torwart Sepp Maier.

Dass Fußball der Lieblingssport der Kunstszene ist, mag man an diesem Abend kaum glauben, Stadionerfahrung bringen offenkundig nur die wenigsten mit. Man macht es sich mit Latte Macchiato, Crêpe Suzette und Operngläsern in der etwas angeschrammten Atmosphäre des Stadions bequem und ist unsicher, ob man bei den Zeilen der Nationalhymne "Auferstanden aus Ruinen" sitzen bleiben darf.

Der Kunstfan ist, anders als der Fußballfan, bereit, langweilige Momente zu überbrücken

Franz Beil und Massimo Furlan nehmen dagegen so ungerührt Aufstellung, als stünde hinter ihnen eine komplette Elf. Die beiden Performer haben das Spiel perfekt verinnerlicht, die Choreografie sitzt, jeder Schritt, jeder Schuss, jede Geste. Und weil die Zuschauer auf den Tribünen kleine Radios in den Händen halten, mit denen sie wahlweise dem Originalkommentar des westdeutschen oder des DDR-Fernsehens folgen, wirkt der einsame Auftritt der beiden auf dem weiten, etwas fleckigen Grün nicht gespenstisch, sondern - fast - authentisch. Die mangelnde Fußballkenntnis vieler Zuschauer wird ausgeglichen durch die Routine des Kunstpublikums, das sich bei Performances zu verhalten weiß. Man überbrückt langweilige Momente mit kurzen Gesprächen und ist - im Gegensatz zum Fußballfan - bereit, schwache Momente durchzustehen.

Die Reibungsverluste zwischen Spektakel, Medienerfahrung, Konzeptkunst und Stadionparty werden genauso kommentiert wie sonst Abseitsfehler, strittige Schiedsrichterentscheidungen und verfehlte Pässe. Wobei das Geschehen sich in der zwölften Minute zuspitzt - es kann auch die vierzehnte sein, die Stadionuhren laufen nicht mehr -, als Jürgen Sparwasser stürzt. Und Franz Beil nicht wieder aufsteht. Während die Radioübertragungen weiterlaufen, wird der verletzte Schauspieler abtransportiert. Massimo Furlan bleibt allein zurück und ignoriert in seiner Rolle als Sepp Maier souverän den kurz danach das Spielfeld kreuzenden "Blitzer", den es im Jahr 1974 ja auch nicht gab. Während die Security-Männer den Nackten jagen, reflektiert man auf den Rängen die Unbefangenheit der Kunst im Umgang mit männlichen Akten. Und als dann kurz vor Ende das entscheidende Tor fällt, liegt ein großer Lichtkegel auf dem scheiternden Torwart, dem das gesamte Stadion bei diesem Schlussauftritt begeistert zujubelt.

Man wird nicht umhinkommen, den Auftakt von Game Changers in der Sprache des Fußballs als "groß" zu apostrophieren. Beim Verlassen des Stadions schwenkte jemand seine Tasche mit dem Aufdruck "Public Art in Munich" so über dem Kopf wie ein Dauerkarteninhaber seinen Vereinsschal. Ob es dieser über viele Wochen verstreuten Biennale gelingt, selbst zum Game Changer zu werden, zu einer nicht zu übersehenden Größe, die sich den weltweiten Biennalen und Stadtbekunstungen in den Lauf stellt, lässt sich noch nicht entscheiden. Das liegt in der Natur dieser Unternehmung. Bis dahin heißt es immer wieder aufs Neue: "Jedes Wochenende Performances. Eintritt frei."

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Quelle:
SZ vom 02.05.2018
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