Die Zukunft, liebe NeunachbarInnen, ist finster. Selbst in der Medusa-Bar brennt kaum noch Licht, man kann fast nicht lesen, dass ein Flyer auf dem Tresen das Symposium zum "Disaster Management" mit dem Slogan ankündigt: "The next catastrophes are, as always, just around the corner", frei übersetzt: Die nächsten Katastrophen sind so sicher wie früher die Rente. In den Schlafwaben des Hotels im Stockwerk darüber steht die Luft, es riecht nach alter Farbe, die Pflanzendeko ist in das Stadium ihrer Papierwerdung eingetreten. Die Turnton Gazette im Zeitungsständer der Hotellobby macht mit dem "Quallenschleim" auf, der Biopestizide im Meer findet, im Artikel daneben wird vom einem Casting für die "Legenden des Schwachsinns" berichtet: Man sucht nach "CharakterschauspielerInnen".
Duster, aber wenigstens sprachpolitisch korrekt und durchgegendert ist diese Zukunft des Jahres 2047. Alle Menschen werden, wenn nicht zu Brüdern, zu "KomplizInnen" geworden sein. Denn dann gibt es niemanden mehr, der nicht auf der Flucht und der Suche nach Obdach wäre.
In Wien werden nun, 100 Jahre nach Freud, unsere menschlichen Werte als unheimlich beschrieben
Dieses morbidheitere Szenario um die erfundene Küstenstadt Turnton ist Teil einer "immersiven Installation", also einer begehbaren Erzählung, mit dem Titel "Change was our only Chance" (Wandel war unsere einzige Chance), die am Wiener Franz-Josefs-Kai im Rahmen der gerade eröffneten Vienna Biennale zu erleben ist. Klar, Wien!, so könnte man jetzt sagen: Immer im Dauerflirt mit dem Tode, und wenn eine Metropole in diesen Tagen Anlass hat, die Zukunft tristgewiss zu malen, dann die österreichische Hauptstadt. Erst den Vizekanzler verloren, dann den Innenminister, dann den so jungen Kanzler und schließlich die ganze Regierung. Alles in zehn Tagen. Wenn das in dem Tempo so weiterginge, wenn man dazu noch all die anderen menschengemachten Probleme wie die Klimakatastrophe hochrechnet, dann wird 2047 wohl auch die Hauptstadt der Alpenrepublik zur Küstenstadt geworden sein. Dann landet man in einer "Medusa"-Bar, die ihren Namen natürlich jenem Gemälde von Théodore Géricault verdankt, der 1819 Schiffbrüchige sehr pittoresk auf einem Floß drapierte, die auf ihrer prekären Passage zu Kannibalen geworden waren. Küss die Hand, KomplizIn!
Doch so einfach ist die Sache nicht, ist sie ja nie, auch nicht in Wien. "For Change" ist der Ausstellungsparcours der Biennale diesmal allumfassend betitelt, das ist als Überwölbung ebenso breit wie nichtssagend. "Change", Wandel, ist ja irgendwie immer. Doch dafür, dass man in Wien ganz verschiedene Künste bündeln will, mag das durchgehen. Deren Themen sind auf mehrere Standorte im ganzen Stadtgebiet verteilt. Die Hauptschauen gibt es im MAK (Museum für Angewandte Kunst) mit dem angeschlossenen und neu eingerichteten Design-Lab, dazu "Hysterical Mining" in der Kunsthalle über sexistische Technologien, des Weiteren die "Future Factory" und "Human by Design" in den Galerien "Die Schöne" und "Satelit", "Space and Experience" erforscht eine "Architektur für besseres Leben" und das "Angewandte Innovation Laboratory" will eben den Alltag des Jahres 2047 zeigen. Doch wesentlich triftiger als die allgemeine Aufforderung zum Wandel macht "Uncanny Values" als Titel für die zentrale Schau im MAK deutlich, worum es den Werken auf der gesamten Biennale tatsächlich geht.
Das Wortspiel verweist auf jene Akzeptanzlücke, das "uncanny Valley", die Menschen paradoxerweise empfinden, wenn sie etwas als "zu real" und darum als "unheimlich" empfinden: Ein humanoider Roboter erscheint, je menschlicher er wirkt, irgendwann als zu wahr, um echt zu sein. In Wien werden nun, einhundert Jahre nach Freud, unsere menschlichen Werte im Morgenschein der heraufdämmernden künstlichen Intelligenz als "uncanny" beschrieben, sie seien dabei, uns "unheimlich" zu werden. Doch was wären wir, was sind wir noch ohne Werte? Gefragt wird also, was macht uns noch aus, was hält uns aufrecht, was wird aus uns, wenn alles (nur) so weitergeht wie bisher?
Denn eine Vorahnung von jener "unheimlichen", technologisch erzeugten Hyperrealität erleben wir ja schon jetzt in den Prognosen für künstliche Intelligenzen. Sie berechnen, glaubt man den Auguren des Silicon Valley, ja demnächst nicht nur die Routen miteinander vernetzter, selbstfahrender Autos, sondern sie greifen direkt in uns ein, ins Individuum wie in die ganze Gesellschaft. Sie optimieren unsere DNA, eliminieren Krankheiten schon im Keimzellenstadium und sorgen für ein in jeder Hinsicht sauberes Gemeinwohl: die klügsten, schönsten, gesündesten Kinder für die effizientesten Städte mit den kuscheligsten Wohnzellen, in denen alles von klugen Algorithmen errechnet und mundgerecht serviert wird.
Doch dieses rechnergestützte Miteinander basiert auf der Übersteigerung des Massenkonsums und -verkehrs unserer Tage, es funktioniert nur mit Social-Credit-Systemen wie jetzt schon in China und verlangt die permanente Identifizierung und Evaluierung des Menschen durch Automaten, die von irgendwem, vielleicht auch nur von sich selber, beherrscht und gesteuert werden. Unterm Strich der banalen Konsummathematik kommt dann heraus: Diese schönen neuen Werte muss man sich leisten können, leisten wollen. Oder eben nicht. Ganz abgesehen davon, das jedoch ist sicher, wird man das frivole Fundament, auf dem das alles basiert, also die obszöne Reichtumsverteilung, die Ressourcenverschwendung und die unumkehrbare Ausbeutung unseres Planeten, wohl nicht ewig ignorieren können.
Insofern, das ist das Wiener Anliegen, darf die angebliche Alternativlosigkeit zum konsumistischen Individuum und zum von Gier getriebenen, ökologisch ruinösen KI-Kapitalismus durchaus auch mal hinterfragt werden. Oder sagen wir es so: So wie jetzt geht es nicht weiter.
Dieser Meinung ist ganz und gar auch die künstliche Intelligenz "Asunda" im MAK. Man hat sie unsere Erde analysieren lassen: Klima, Ressourcenverbrauch, Ökologie, Börsenkurse, Bevölkerungsdichte etc. Asunda rechnete ein wenig und plädierte sehr schnell für die Neuplanung des Planeten. Ein Triumph des kalten Kalküls. Das Silicon Valley will Kupfer, der Kongo hat es, also verlegt man den Kongo nach Kalifornien, das verringert Transportkosten. Dubai verbraucht sinnlos Energie und Ressourcen, also: Dubai muss weg!
"Warum nutzen wir diese Technologien nicht, um uns als Menschen weiterzuentwickeln?"
Gleich am Eingang des MAK grüßen 30 Gesichtsmasken aus dem 3D-Drucker. Es seien die möglichen Gesichter von Chelsea Manning, ermittelt von einer KI aus Mannings DNA: "Probably Chelsea" heißt denn auch diese Arbeit von Heather Dewey-Hagborg (aus der DNA von Chelsea E. Manning). Hinter den Masken beziffert ein Röhrenticker den aktuellen Marktwert der britischen Künstlerin Rachel Ara: Algorithmen, "The Endorsers" (Befürworter), berechnen ihn anhand von Geschlecht, Herkunft, Social-Media-Value, Kunstmarkt-Websites und Finanzmarktanalysen laufend neu. Wenn man vor dem Werk stehend den Namen "Rachel Ara" twittert, sieht man, wie ihr Wert in den Nachkommastellen sofort ansteigt. Das "Design Lab" zeigt genetisch manipulierte Rochen, deren nun bunte Häute zu Schuhen und Handtaschen verarbeitet werden. Alles verblüffend und schön, wenigstens nett, aber auch komplett irre.
Nein, es ist "ambivalent", sagt Christoph Thun-Hohenstein, der Kurator der Biennale, "und diese Ambivalenz ist gut." Denn wenn uns die KI jetzt aufzeigen kann, zu welchen absurden Spiralen sich der Spätkapitalismus der Digitalen Moderne hochrechnet, dann sei doch die Frage aufgeworfen: "Warum nutzen wir, warum nutzt Europa, diese großartige Technologie nicht, um uns als Menschen weiterzuentwickeln?" Denn nur das sei alternativlos: "Wir müssen die Zukunft neu erfinden, sonst wird sie uns neu erfinden." Darauf einen "Mean Green Algen-Wodka" in der Medusa-Bar!