Biennale in München:Grazie als Haltung

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Grausig-schöne Bilder von Wesen zwischen Mensch und Tier: Szene aus Lia Rodrigues' Stück "Fúria/Wut". (Foto: Sammi Landweer)

Vielleicht rettet Tanz nicht die Welt, aber die Schönheit: Zwischenbilanz des Münchner Festival Dance mit William Forsythe und Lia Rodrigues.

Von Sabine Leucht

Culture only belongs to the people that decide to own it." Dass Kultur nur jenen gehört, die sie auch ihr eigen nennen, die sie besitzen wollen - mit dieser Aussage von Richard Siegal endet Benedict Mirows Film über Siegals Ballet of Difference (BoD). Der Film heißt "Draw a Line", was sich auf die Bewegungen des tanzenden Körpers im Raum bezieht, aber auch auf die Grenze, die es zu überschreiten gilt, wenn daraus Kunst werden soll. Beim Münchner Festival Dance sind diesmal besonders viele Grenzüberschreiter am Werk. "Wie wollen wir miteinander kommunizieren und miteinander leben?", steht als Frage über der zum vierten Mal von Nina Hümpel kuratierten Biennale. Was diese Frage fast zwingend macht, ist bekannt: Donald Trump und seine Gesinnungsgenossen, die wachsende gesellschaftliche Spaltung, Intoleranz.

Dass der zeitgenössische Tanz luzide Analysen oder gar Lösungen anbieten könnte, steht zwar nicht zu erwarten. Und die expliziteren Arbeiten wie Siegals Auseinandersetzung mit Fake News ("Roughhouse") oder die neue Produktion des jungen chinesischen Choreografen (und Hümpel-Entdeckung) Yang Zhen stehen einige Tage vor Festivalende noch aus. Dafür geht es im Bühnentanz eigentlich immer um die Überbrückung von Gegensätzen zwischen Individuum und Gruppe oder Impuls und Form.

Neun Tänzer entsteigen einem Müllberg, ihre Kleider tragen sie mit dem Stolz von Majestäten.

Die Münchner Choreografin Ceren Oran, die bei Dance im öffentlichen Raum den Ursprüngen der Tanzlust nachspürt, zitiert beim festivalbegleitenden Symposium eine Kollegin: "Ich bin immer glücklich, wenn ich tanze, meist aber exekutiere ich nur eine choreografische Struktur." In Mirows Dokumentarfilm schwärmt fast jeder BoD-Tänzer von Selbstentfaltung, obwohl man genau sehen kann, wie wichtig Siegal die exakte Ausführung technisch teils haarsträubend schwerer Bewegungen ist. Die Anfangsszene seines Erfolgsstückes "Unitxt" entwickelte der Amerikaner Siegal in Lagos. Im Film bedankt sich ein nigerianischer Tänzer überschwänglich dafür, damit indirekt Teil dieser Kreation zu sein.

Womöglich ist es diese Stelle, die die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues "respektlos" findet. Rodrigues betreibt seit 2004 ein Ausbildungs- und choreografisches Zentrum in der Favela Maré in Rio und war mit ihrem neuesten Stück "Fúria" in München. Während Siegal davon redet, mit Tanz "die Welt zu reparieren", spricht sie von ihren Privilegien als weiße Frau im "rassistischsten Land der Welt".

"Fúria/Wut", die jüngste Kreation ihrer seit 1990 bestehenden Companhia, entstand nach der Wahl Jair Bolsanaros zum Präsidenten, denn Brasiliens Zustand ist für Rodrigues ein "Labor", das auch Europa blüht. Ihre Erinnerung an den "Genozid" an jungen schwarzen Männern in ihrem Heimatland hat eine Feierlichkeit, die von ekstatischen Passagen unterbrochen wird, in der dennoch die Zeitlupe dominiert. Sehr langsam entsteigen neun Tänzer einem Müllberg; ihre Gold und Blau bemalten Leiber gruppieren sich zu mystischen Mensch-Tier-Gebilden und tragen Kleider und Turbane aus Plastikmüll mit dem Stolz von Majestäten.

Rodrigues' typische Kombination von archaisch anmutenden Ritualen und Showtanz ist zu grausam-schönen Bildern geronnen, die den Zuschauer jedoch ein wenig ratlos hinterlassen. Was ist das? Ein Lebenszeichen? Ein postapokalyptischer Trauermarsch? Eine Warnung vor dem, was passiert, wenn die Wut sich entlädt? Zumal der Abend mit viel schimmernder Haut und nackten Hinterteilen auch einen gewissen Exotismus bedient. Rodrigues' Companhia lebt von europäischen Co-Produzenten und tourt in Europa, wird aber vornehmlich für das Publikum vor Ort kreiert - dieser Widerspruch zeigt sich hier.

Mit dem Unwohlsein versöhnt der fast mütterliche Stolz der Choreografin auf diejenigen ihrer Schützlinge, die es an die Universität geschafft haben, "obwohl das Leben jeden Tag Nein zu ihnen sagt".

Damit widerspricht sie Richard Siegal: Wem die Kultur gehört, ist keineswegs eine Sache des Willens. Die Welt ist bekanntlich alles andere als gerecht, sie ist nicht mal besonders gut sortiert. Anders das Dance-Programm mit fünf Uraufführungen, sprich: Risiken, die in der ersten Festivalhälfte glimpflich ausgingen oder gleich mit nicht primär ästhetischen Zielen antraten.

Marie Chouinard urinierte einst auf die Bühne, entwickelte später aber feine Eleganz.

Letzteres gilt für Ceren Orans Tanzmarathon "Who is Frau Troffea?" oder eine Radtour auf den Spuren der Frühgeschichte des modernen Tanzes (beides noch bis Sonntag zu erleben). Daneben setzte Nina Hümpel ebenso oft auf Tanz zwischen Bewegungszelebrierung und Spektakel im fortgeschrittenen Reifestadium, der auch für Besucher außerhalb der innersten Tanz-Szene geeignet ist. William Forsythe' "A Quiet Evening of Dance" zerlegt die barocken Bewegungen höfischer Tänzer mit einem Augenzwinkern und setzt gleich zum Festivalauftakt hohe Maßstäbe, was tänzerische Qualität, analytische Intelligenz und Zwischenmenschlichkeit angeht. So tauschen die klassisch geschulten Forsythe-Tänzer mit dem Breakdancer Rauf "RubberLegz" Yasit Bewegungen aus, ohne dass sich einer zum anderen hinabbeugen muss.

Wie Forsythe hat auch die Kanadierin Marie Chouinard den zeitgenössischen Tanz der letzten Jahrzehnte geprägt. Bekannt geworden als solistisches Enfant terrible, das auf die Bühne urinierte, hat sie es mit ihrem 1990 gegründeten Ensemble zu einer feinnervigen Eleganz gebracht. Im Doppelabend "Les 24 Préludes de Chopin / Henri Michaux: Mouvements" scheinen die schmalen Körper ihrer Tänzer die Musik Chopins selbst zu erzeugen. Zwischen markanten Chouinard-Posen mit abgeknickter Hand und einer zackigen "Welle" durch den ganzen Körper - walk like an Eqyptian ... - hibbeln und wirbeln sie über die Bühne, die Arme wie Windmühlenflügel oder als müssten sie oben im Bühnenhimmel die Tasten des Klaviers bedienen.

Im zweiten Teil stellt das Ensemble die 1951 unter Drogeneinfluss entstanden Tintenklecksereien des belgischen Malers und Dichters Henri Michaux nach und malt buchstäblich Körperbilder in den Raum, was mit wachsendem Tempo ein wenig von seinem Witz verliert.

Das Ereignis beider Gastspiele aber sind die Tänzerpersönlichkeiten: Jemand wie Carol Prieur bei Chouinard oder Christopher Roman bei Forsythe, deren Grazie eine innere Haltung ist. Das ist vielleicht nicht der Schlüssel zur Reparatur der Welt, aber zur Schönheit.

© SZ vom 24.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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