Süddeutsche Zeitung

Architekturbiennale:Visionen für 2038

Werden die Städte grüner, die Hochhäuser weniger? Wie werden wir künftig miteinander leben? Die Architekturbiennale in Venedig sucht Antworten auf die Fragen der Zeit.

Von Laura Weißmüller

Diese Eröffnung ist ein Geschenk. Was vor knapp sechs Wochen noch etwas absurd erschien, als die Verantwortlichen der Architekturbiennale in Venedig auf dem Höhepunkt der dritten Welle unbeirrt erklärten, dass diese internationale Großausstellung stattfinden wird, wirkt jetzt, wo die 17. Ausgabe an diesem Samstag ihre Pforten für das Publikum öffnet, wie die logische und ja auch verantwortbare Auftaktveranstaltung für ein ganzes Land. Denn nicht nur die wichtigste Architekturausstellung der Welt mit mehr als 60 Länderpavillons macht auf, sondern auch Italien. Restaurants dürfen jeden Tag länger ihre Gäste draußen bewirten, und seitdem Italien die Quarantäne für Einreisende gestrichen hat - es reicht ein negativer Coronatest, um die Grenze zu passieren -, kehren auch langsam die Touristen zurück.

Wie langsam sie zurückkehren, das zeigt Venedig auf schauderhaft schöne Weise. Es dürfte keinen Ort auf der Welt geben, der vom internationalen Tourismus derart zu Tode geliebt wurde wie die Lagunenstadt. Wenn die großen, weißen Kreuzfahrtschiffe ihre paar Tausend Insassen in die Gassen entließen, war kein Durchkommen mehr zwischen Arsenale, San Marco und Rialto. Dazu kamen die Tagesausflügler und Bustouren, die chinesischen Hochzeitspaare und amerikanischen Reisegruppen. Eine Masse aus schwitzenden Leibern, billigen Souvenirläden und mittelmäßigen Italienrestaurants mit asiatischen Kellnern verstellte den Blick auf dieses Wunderwerk der Baukunst. Venedig war nicht mal mehr ein Freiluftmuseum, es war zum Freilufthotel verkommen.

Im Augenblick ist die Sicht wieder frei und zeigt eine Stadt, die in den vergangenen Monaten zu sich gekommen ist. Bestes Bild dafür: all die Venezianer, die jetzt durch ihre Kanäle rudern. Im Gondolierestil, also stehend, im hinteren Drittel ihres lang gestreckten Bootes, aber ohne jegliche finanziellen Absichten (und schwarz-weiß gestreiftes T-Shirt). Das gab es zwar früher schon, aber nicht in der Zahl und vor allem nicht im Canal Grande, wo vor der Pandemie an Rudern gar nicht zu denken gewesen wäre. Viel zu viele schnittige Taxiboote, brechend volle Vaporetti und schwer beladende Lastenschiffe kreuzten dort auf und ab. Jetzt ist das Wasser still und der Weg frei. Genauso wie es nachts dunkel wird in der Stadt, weil all die Ferienwohnungen leer stehen und dazu noch etliche der ehemaligen Souvenirläden und Restaurants. Ebenfalls verschwunden sind die fliegenden Händler aus westafrikanischen Ländern mit ihren Fake-Luxustaschen, die Rosen- und Krimskramsverkäufer aus Bangladesch und Pakistan, ja nicht mal die Regenschirmhändler sind da. Die Frage ist, wie schnell und auf welche Weise sie wieder zurückkehren werden. Ob also das Leben so wird, wie wir es vor der Pandemie einmal kannten, in seiner Absurdität, seiner Ungerechtigkeit und schwindende Ressourcen verschlingenden Art. Und zwar in Venedig wie im Rest auf der Welt.

"How will we live together?" lässt der Kurator Hashim Sarkis seine Biennale fragen. Der Titel stammt noch aus der Zeit vor Corona - die Biennale sollte eigentlich 2020 stattfinden und musste pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden -, doch nun hat das Motto der Schau es zur alles entscheidenden Frage unserer Gegenwart geschafft. Denn was wird Corona ändern im Zusammenleben auf diesem Planeten? Wird es die Städte grüner machen, weil ihre Bewohner gemerkt haben, wie eingesperrt sie sich in den Betonwüsten fühlen, wenn all die urbanen Freizeitvergnügen wie Kino, Theater, Läden und Museen geschlossen sind? Wird es die Anzahl an anonymen Bürotürmen dezimieren, weil immer mehr Menschen im Homeoffice arbeiten? Und was heißt es für Gemeinschaftsflächen, für Mehrfamilienhäuser, öffentliche Plätze und kulturelle Veranstaltungsorte, wenn das Virus auch weiterhin der Menschheit ein Abstandsgebot auferlegt?

Dafür, dass diese Pandemie die Weltgemeinschaft derart in den Würgegriff nahm und in großen Teilen der Erde immer noch hat, ist sie erstaunlich wenig Thema auf der Biennale. Was trotzdem bedeutet, dass man ein Heer an Desinfektionsspendern und unterschiedlichste Fiebermessgeräte passiert. Dass statt Hunderter internationaler Journalisten wie sonst bei den Pressetagen nur eine Handvoll von ihnen über das luftige Biennalegelände und durch die halb leeren Pavillons streift, wo sie mit Kuratoren auf großen Bildschirmen sprechen können, weil diese in Seoul sitzen oder in London. Und dass doch zahlreiche Pavillons kommentarlos ihre Tore geschlossen lassen. Aber Hashim Sarkis und sein Team blieben im Großen und Ganzen beim ursprünglichen Konzept, das die Frage nach dem künftigen Zusammenleben in fünf Themenbereiche trennt und vom Körper, der kleinsten Einheit, bis zum Planeten immer größer im Maßstab durchdekliniert. Die Pandemie habe, so Sarkis, seine Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben werden, noch wichtiger gemacht. In gewisser Weise habe das Virus ihn in seiner Themenwahl bestätigt.

Womit Sarkis recht hat: So wie er die Frage versteht, so politisch, global und grundsätzlich, hat auch Corona nichts daran verändert. Tatsächlich hat ja unsere international vernetzte, immer weiter in die letzten Naturreservate vordringende und diese zerstörende Lebensart überhaupt zu der Pandemie geführt. Es ist eine Stärke der Biennale, dieses dichte Netz an Zusammenhängen mit Karten, Grafiken und Zeitachsen, mit Satellitenaufnahmen, Kunstwerken und Videoinstallationen noch einmal in all seiner Schönheit wie Schauderhaftigkeit offenzulegen. Sie versteht die Welt "als eine vitale Einheit, als eine Megacity". Wie wenig sinnvoll es ist, an politischen Grenzen festzuhalten und sich in Länderegoismen zu ergehen - auch das macht das Virus deutlich. Denn es wird nicht helfen, wenn der reiche Westen durchgeimpft ist, der globale Süden aber nicht.

Es hilft nicht, Architektur nur in ihren gebauten Mauern zu betrachten

Man merkt dieser Biennale Sarkis' wissenschaftlichen Hintergrund an, seine Sozialisation an den Eliteuniversitäten der amerikanischen Ostküste. Der Libanese hat in Harvard studiert und ist heute Dekan der Architekturfakultät des MIT. Anders als viele seine Vorgänger hält der Architekt nichts davon, die Baukunst für sich alleine zu betrachten, und auch nichts davon, seine befreundeten Kollegen einzuladen, ihre Entwürfe hier vorzustellen. Was man schon daran merkt, dass die sonst üblichen Hochglanzprojekte der Stars der Branche fast komplett fehlen. (Ob auch deswegen so wenige bekannte Architekten zu den Eröffnungstagen angereist sind oder aufgrund der Pandemie, sei dahingestellt.)

Was aber kein Nachteil ist. Denn so wenig sinnvoll es ist, an politischen Ländergrenzen festzuhalten, wenn es darum geht, mit der selbst gemachten Klimakatastrophe zu leben, so wenig hilft es, die Architektur nur in ihren gebauten Mauern zu betrachten. Sarkis hat also Anthropologen, Soziologen und Künstler, er hat Geografen, Zukunftsforscher und Biologen eingeladen, um der Frage, wie wir miteinander leben, auf den Grund zu gehen. Wie tief sie dabei bohren, zeigen zwei Installationen im Hauptpavillon in den Giardini. Die eine empfängt den Besucher gleich am Eingang, sie nennt sich "Obsidian Rain" und besteht aus einem Himmel aus schwarz glänzenden Lavasteinen, am Boden stehenden Baumstümpfen als Sitzgelegenheiten und dazwischen schlanken Vitrinen mit Bronzeabgüssen von Höhlen in Kenia.

Es ist eine Referenz an die Antikolonialismuskämpfer in Kenia, die sich gegen die britischen Besatzer wehrten und ihre Sitzungssäle in natürlichen Höhlen einrichteten. "Keiner erzählt ihre Geschichte", sagt der kenianische Architekt Kabage Karanja, der zusammen mit Stella Mutegi in Nairobi 2014 deswegen das "Cave_bureau" gegründet hat. Sie wollen Licht in das düstere Kapitel ihrer Vergangenheit bringen.

Die Biennale stellt die Frage nach der Weltgerechtigkeit. Nicht nur für die Menschheit, auch für die anderen Lebewesen

Etwas wieder zum Leben erwecken will auch der begehbare Glaskasten, in dem drei wuchtige Erd- und Gesteinsbrocken liegen. Wer ihn betritt und etwas nachspürt, wird umfangen von einem lieblichen, frisch zitronigen Duft. Was man da riecht, gibt es eigentlich nicht mehr, es ist der Duft der Hibiscadelphus wilderianus, einer Pflanze aus Hawaii, die von den Kolonialherren ausgerottet wurde, weil sie Weiden für ihre Rinder brauchten. Der letzte Baum fiel 1912.

Sarkis stellt die große Frage nach der Weltgerechtigkeit. Nicht nur für die Menschheit in all ihrer Diversität, sondern auch für die anderen Lebewesen auf diesem Planeten. So wichtig diese holistische Sichtweise ist, so deutlich dürften ihre Argumente seit geraumer Zeit auf dem Tablett liegen. Die Klimakatastrophe passiert nicht über Nacht, die Warnungen laufen auf allen Kanälen, Greta Thunberg vor den UN, der verhungerte Eisbär auf der schmelzenden Scholle, der Amazonas in Flammen - die Katastrophenbilder haben sich längst ins allgemeine Bildgedächtnis eingebrannt. Getan dagegen wurde wenig, weswegen eine mit allen Sinnen erfahrbare Wissensvermittlung vielleicht doch mehr bringt als all die Weltkarten und das Bildschirmflimmern.

Der dänische Pavillon macht das sehr gut, indem der Besucher Teil der Installation wird, den Weg des Regenwassers vom Dach durch den gefluteten Bau beobachten kann, genauso wie die jungen Italienerinnen in ihren schicken Kimonojacken, die aus getrockneten Kräutern, die in Blumenkästen im Pavillon wachsen, Tee machen, den man trinken kann. Man riecht, schmeckt und hört den Zusammenhang mit allen Sinnen. "Wir wollten, dass die Reflexion über den Körper passiert", sagt die Kuratorin Marianne Krogh. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum diese Pandemie der Menschheit ihre globale Vernetztheit endgültig klargemacht hat: weil sie Corona am eigenen Leib gespürt haben.

Kroghs Glück war, dass der Dänische Pavillon bereits komplett fertig aufgebaut war, als die Anti-Covid-Restriktionen erlassen wurden. Tee servieren, einladende Sitzgelegenheiten bieten - andere Pavillons durften das nicht. Weswegen die Standardlösung vieler Kuratoren dieses Jahr großformatige Fotos oder Videoinstallationen an der nackten Wand sind. Die Kuratoren des Deutschen Pavillons machen es noch etwas antiseptischer: Ihre Filme darüber, wie eine globale Krise die Welt in naher Zukunft - 2038 - besser machen könnte, laufen über einen QR-Code entweder auf dem Smartphone, während man durch den rückgebauten, strahlend weißen Pavillon wandert, oder sonst wo auf der Welt auf dem Computer. Das ist clever durchdacht, und vor allem bieten die Filme und ihre realen Experten darin Lösungen an, wie man Ökonomie und Ökologie miteinander befriedet oder man alternative Formen zum privaten Eigentum findet. Genau diese klaren Antworten fehlen bei Hashim Sarkis. So groß die Frage ist, die er mit seiner Biennale stellt - wann, wenn nicht jetzt besteht die Chance, es konkret anders zu machen mit dem Leben auf diesem Planeten?

Viele Sprachen kennen ein besonderes Wort für ein Gemeinschaftsprojekt

Wie das tatsächlich im Kleinen gehen könnte, zeigt der Länderpavillon der Philippinen: Die Architekten Sudarshan V. Khadka, Jr. von den Philippinen und Alexander Eriksson Furunes aus Norwegen entwickelten mit den Dorfbewohnern eines kleinen Ortes auf den Philippinen eine Bibliothek. "Bayanihan" beschreibt auf Filipino eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit. Genau lässt sich das Wort nicht übersetzen. Tatsächlich gibt es in vielen Sprachen und damit vielen Ländern dieser Welt ein solches Wort: Was auf Finnisch Talkoot, auf Japanisch Sogo-Fujo und auf Norwegisch Dugnad heißt, beschreibt ein Gemeinschaftsprojekt - meist hat es mit Bauen zu tun - , das auf Verantwortungsgefühl, Solidarität und Sorge füreinander basiert. Und darum geht es. Denn ein Weiterleben auf diesem Planeten wird, wenn überhaupt, nur gemeinsam möglich sein.

How will we live together?, 17. Internationale Architekturbiennale in Venedig. Bis 21. November. Infos unter www.labiennale.org

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