Bevölkerungszahl:Abwärts

"Wir müssen die ökonomischen Vorteile der Kinderlosigkeit abbauen": Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann über den deutschen Bevölkerungsschwund.

Alex Rühle

Die bestürzenden neuen Zahlen des Statistischen Bundesamts, wonach sich der Schrumpfungsprozess der deutschen Bevölkerung beschleunigt, da im vergangenen Jahr nur mehr rund 676.000 Kinder auf die Welt kamen, hat den Soziologen Franz-Xaver Kaufmann nicht groß überrascht.

Im Gegenteil, er sagt voraus, es wird noch schlimmer kommen, das deutsche Fertilitätsniveau wird weiter sinken. Von Kaufmann, dem emeritierten Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, erschien 2005 bei Suhrkamp "Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen".

SZ: Herr Kaufmann, im Vergleich zum Jahr 1964, als in der Bundesrepublik und in der DDR mit insgesamt 1,357 Millionen Kindern ein Geburtenrekord erreicht wurde, hat sich die Zahl der Babys inzwischen halbiert.

Franz-Xaver Kaufmann: Der jüngste Geburtenrückgang kommt für Demografen nicht überraschend, er wird sich wohl fortsetzen. Seit kurzem kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ab 1975 ins fortpflanzungsintensivste Alter. Auch wenn die Frauen weiterhin durchschnittlich 1,4 Kinder bekommen sollten, was dem Durchschnitt der letzten 30 Jahre entspricht, werden die Geburtenzahlen sich weiter reduzieren.

Schematisch gesagt: Bei diesem niedrigen Fertilitätsniveau bekommen 1000 Frauen etwa 670 erwachsene Töchter und nur noch 450 Enkelinnen und 300 Urenkelinnen.

SZ: Aus demografischer Sicht stellt die Wiedervereinigung das größte Drama der deutschen Geschichte dar. 1988 wurden in der DDR noch 222.000 Kinder geboren. 1994, auf dem absoluten Tiefpunkt in Ostdeutschland, waren es 79 000. Das war Weltrekord. Inwieweit kann man denn Befindlichkeit der Bevölkerung und Geburtenrate korrelieren?

Kaufmann: In einem kulturellen Umfeld, das materiellem Wohlstand hohe Bedeutung zumisst, wirkt die wirtschaftliche Belastung durch Kinder und die damit verbundene Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten für viele abschreckend. Qualifizierte Frauen müssen in Deutschland bekanntlich mit einem dauerhaften beruflichen Karriereknick durch Kinder rechnen.

Im Falle des Zusammenbruchs der DDR kam zur wirtschaftlichen eine tiefe soziale Verunsicherung. Die vorübergehend extrem tiefe Fertilität erklärt sich aber außerdem durch das frühe Gebäralter der Frauen in der DDR.

In dem Maße, in dem sich die Frauen an westdeutschen Fertilitätsmustern mit später Mutterschaft zu orientieren begannen, war ein vorübergehendes Absinken der Fertilität erwartbar.

SZ: Noch immer kursiert die These, es könne kein Zufall sein, dass ausgerechnet die Länder mit faschistischer Vergangenheit, also Deutschland, Japan, Griechenland, Italien und Spanien, die niedrigsten Geburtenraten haben.

Kaufmann: Eher als der Faschismus scheint mir der Machismo als Ursache in Frage zu kommen. Heute ist die Fertilität der Frauen in den Ländern höher, in denen sie ein größeres Maß an Gleichberechtigung erreicht haben.

Wer es nicht glaubt, dass Deutschland hier noch Nachholbedarf hat, sollte einmal die Häufigkeit von Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof wegen Verletzungen des Gleichheitsgrundsatzes für beide Geschlechter studieren!

SZ: Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz, macht darauf aufmerksam, dass das Hotel Mama unfruchtbar mache. ¸¸Wenig Kinder gibt es in den Ländern, in denen die jungen Männer sehr lange zu Hause wohnen bleiben."

Kaufmann: Passend dazu zeigt sich in jüngsten Umfragen eine zunehmende Unlust junger deutscher Männer, eine Familie zu gründen, während immer mehr junge Frauen darüber klagen, keine geeigneten Partner zu finden. Offensichtlich ist hier etwas im Verhältnis der Geschlechterrollen aus dem Lot geraten.

SZ: Warum liegt denn die Geburtenrate in Frankreich und Großbritannien jeweils um die Hälfte höher als bei uns?

Kaufmann: Frankreich war das erste Land der Welt, in dem die Fertilität schon seit 1830 deutlich zurückging, was nationalistische Befürchtungen auslöste. Daneben entstand eine christliche Familienbewegung. Beide Strömungen zusammen vermochten sehr früh die Familienförderung als Staatsaufgabe zu verankern.

Und seit 1945 hat Frankreich dann eine nachhaltige, bevölkerungsbewusste Familienpolitik betrieben. In Großbritannien gibt es zwar kaum Familienpolitik, aber eine ziemliche effektive Politik der Armutsprävention, sodass Kinderreichtum weit weniger ein Armutsrisiko als in Deutschland darstellt.

SZ: Wird die Familienpolitik der großen Koalition die Situation verbessern?

Kaufmann: Das Regierungsprogramm bringt nur scheinbare familienpolitische Fortschritte: Den 1,5 zusätzlichen Milliarden im Haushalt der Familienministerin stehen 3,5 Milliarden Euro gegenüber, die den Familien durch die Streichung des Baukindergeldes entgehen. Weitere vier Milliarden Familienzulagen im öffentlichen Dienst sollen durch die Dienstrechtsreform wegfallen.

Und die Mehrwertsteuererhöhung wird Haushalte mit Kindern stärker belasten als Kinderlose. Diese zusätzlichen Belastungen der Familien sind zwar nicht gezielt beabsichtigt, aber sie resultieren scheinbar zwangsläufig aus plausibel begründeten Gesetzesänderungen.

Das zeigt die strukturelle Benachteiligung der Eltern in unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Ohne nachhaltiges Gegensteuern im Steuer- wie im Sozialversicherungsrecht, wie vom Bundesverfassungsgericht seit längerem angemahnt, kann sich die finanzielle Situation der Familien nicht verbessern.

SZ: Es wird ja parallel vor Überfremdung und Islamisierung der Gesellschaft gewarnt. Um aber die Alterspyramide wieder auf eine verjüngte Basis zu stellen, müssten jährlich 700 000 Migranten kommen. Doch während im Jahr 2002 noch 220 000 Menschen nach Deutschland kamen, waren es 2005 nur noch 90 000, also ein Achtel der mathematisch erforderlichen 700 000.

Kaufmann: Wollte man die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland allein durch Zuwanderungen wieder ins Gleichgewicht bringen, müssten jährlich weit über eine Million Personen einwandern. Nur etwa jeder dritte Zuwanderer lässt sich ja dauerhaft in Deutschland nieder.

Diese dauerhaften Zuwanderer sind per Saldo ein wirtschaftlicher Gewinn für Deutschland, und sie könnten auch ein sozialer Gewinn sein, wenn wir uns mehr um die Integration ihrer Kinder kümmern würden.

Der viel zu geringe Aufwand, der für die erforderliche besondere Förderung von Migrantenkindern in den Bundesländern geleistet wird, ist der unvernünftigste all unserer bildungspolitischen Skandale!

SZ: Das klingt nun so, als gäbe es einen ganzen Strauß an Skandalen.

Kaufmann: Da eine Erhöhung der Geburtenraten, wenn sie gelingen sollte, erst mit einer Verzögerung von 15 bis 25 Jahren hilfreich wird, müsste um so größerer Wert darauf gelegt werden, den vorhandenen Nachwuchs so gut wie möglich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu Skandinavien oder auch der Schweiz wird aber bei uns das Schwergewicht auf die Auslese der Begabten und nicht auf die möglichst breite Förderung des Nachwuchses gelegt.

Ein Kindergartenplatz kostet die Eltern Geld, ein Platz im Gymnasium nicht! Außerdem ist das deutsche Schulwesen nicht darauf vorbereitet, problembelasteten Kindern zu helfen. Es gibt weder Schulpsychologen noch Schulsozialarbeiter in den Schulkollegien.

Man ist in Deutschland einfach nicht bereit, genug in den Nachwuchs zu investieren, nicht von ungefähr ist der Anteil der Bildungsaufwendungen am Volkseinkommen deutlich geringer als in den meisten anderen OECD-Staaten.

SZ: Aber die Politiker werden doch nicht müde, mit der Formel vom Land der Dichter & Denker zu hantieren.

Kaufmann: Ein Grund liegt in der Kulturhoheit der Länder und ihrer im Vergleich zum Bund prekären Finanzausstattung. Aber es liegt auch an einer falschen Problemwahrnehmung. Aus Sicht der herrschenden Wirtschaftswissenschaften, die natürlich in den Finanzministerien dominiert, gelten die Aufwendungen für Kinder als Konsumaufwendungen und nicht als Investitionen.

Doch in volkswirtschaftlicher Perspektive wird die Bildung von so genanntem Humankapital - oder besser: Humanvermögen - immer wichtiger. Schätzungen besagen, dass unsere Produktivität inzwischen nur noch zu einem Drittel auf den Investitionen in Sachkapital und zu zwei Dritteln auf Investitionen in Humankapital beruht.

Man müsste darum den Investitionsbegriff in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ändern und eine Humanvermögensrechnung aufmachen, also die familiären Kinderkosten wie Bildungsaufwendungen mit ihren Abschreibungen einbeziehen, um endlich ein realistisches Bild über unsere wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven zu gewinnen.

SZ: Ihr Kollege Herwig Birg schreibt, für das, was Deutschland bevorstehe, tauge ¸¸nicht einmal der Dreißigjährige Krieg als Vergleich: Der endete nach drei Jahrzehnten mit einem Frieden und alles ging wieder nach oben." Ist das nicht zu drastisch formuliert?

Kaufmann: Nein. Damals wurde im Deutschen Reich zwar etwa ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft. Damit war die Ausgangslage natürlich viel schlechter als die unsrige.

Aber der Westfälische Frieden stabilisierte das europäische Staatensystem, und bald kam es auch zu agrarwirtschaftlichen Fortschritten, sodass eine wachsende Bevölkerung ernährt werden konnte, die dann später die Voraussetzung für das Gelingen der industriellen Revolution wurde.

Das haben die Leute natürlich nicht vorausgesehen, aber auf der Basis der heute in großen Teilen Europas herrschenden niedrigen Fertilität ist wohl selbst im Falle größerer technologischer Durchbrüche mit einem dauerhaft starken Wirtschaftswachstum nicht mehr zu rechnen.

SZ: Sie selbst wählen in Ihrem Buch ein nicht minder drastisches Bild, indem Sie den Bevölkerungsrückgang in Europa und den daraus resultierenden Sog auf die noch jungen und ärmeren Bevölkerungen anderer Weltteile mit den Wirkungen der Völkerwanderung vergleichen. Können Sie das konkretisieren?

Kaufmann: Es gab anscheinend bereits im spätrömischen Reich Nachwuchsmangel. Auf jeden Fall konnten die militärischen Kontingente zunehmend nur noch durch die Indienstnahme von "Barbaren" aufgefüllt werden. Bekanntlich führte dann die Völkerwanderung gleichermaßen zu Verwüstungen wie zur Blutauffrischung auf dem Gebiet des römischen Reiches.

Europa als einer der höchst entwickelten Wirtschaftsräume der Erde wird nicht menschenleer werden, sondern einen Sog ausüben auf die Bevölkerung Nord- und Zentralafrikas ebenso wie auf weitere Gebiete mit Bevölkerungsüberschüssen.

Und es könnte sein, dass die Zuwanderer vieles von der europäischen Kultur allmählich in eigenständiger Interpretation übernehmen, wie damals die Goten oder Franken von den Römern. Für die ihren Einfluss verlierenden Alt-Eingesessenen mag dieser Trost allerdings bescheiden sein.

SZ: Die zentrale sozialpolitische Aufgabe des kommenden Jahrzehnts liegt für Sie darin, dass die Kinderlosen, also diejenigen, die ¸¸nicht in das Humankapital der nachwachsenden Generation investieren, in äquivalenter Weise zur kollektiven Zukunftsvorsorge beitragen müssen, nämlich durch zusätzlichen Konsumverzicht und die Bildung von Ersparnissen". Wie stellen Sie sich das denn in einer Demokratie vor?

Kaufmann: Ich gestehe zu, dass die Forderung nach einem Altersvorsorgezwang für Personen, die - manchmal aus für sie tragischen Gründen - keine Elternverantwortung übernehmen, noch als politisch unkorrekt gilt. Es ist aber praktisch unmöglich, Familien ausreichend zu fördern, ohne die ökonomischen Vorteile der Kinderlosigkeit abzubauen.

Diese Einsicht wird sich durchsetzen. Was die Politik daraus macht, ist schwer zu sagen. 1960 hätte aber auch keiner geglaubt, dass Deutschland eines der strengsten Umweltregime entwickeln und dadurch Weltmarktführer in vielen Umwelttechnologien werden könne.

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