Süddeutsche Zeitung

"Aktion Beuys" am Staatstheater Kassel: Erweiterter Parkbegriff

Das Staatstheater Kassel inszeniert Leben und Werk von Joseph Beuys als Stadtrundgang mit Verpflegungspause.

Von Nicolas Freund

Man kann es als Beispiel für Joseph Beuys' erweiterten Kunstbegriff verstehen, dass Teile dieser Inszenierung essbar sind. In der Pause wird eine Suppe gereicht, einzelne Zuschauer sind sofort alarmiert, denn angeblich wurde sie nach einem Originalrezept des Künstlers zubereitet. Spontane Nachforschungen vor Ort konnten die Behauptung weder verifizieren noch widerlegen. Damit passt die Geschichte der Suppe besser als sie selbst in das an Ausgedachtem und Dazugedichtetem reiche Werk und Leben Beuys'. Es handelt sich nämlich nicht um eine Zitronen-Margarine-Fett-Suppe oder etwas in der Art, sondern einfach um eine (wirklich gute) Gemüsecreme-Suppe. Diese Pause vom Beuys'schen Kunstverständnis müssen sich die Zuschauer aber erst erarbeiten.

Das Staatstheater Kassel hatte geplant, Beuys' 99. Geburtstag mit einer Aufführung zu feiern. Dann kam die Pandemie, und jetzt fällt "Aktion Beuys" genau in das Jubiläumsjahr zum 100. Geburtstag des Künstlers, ohne den der Kunstbegriff heute ein anderer wäre, nämlich wesentlich weniger selbstreflektiert, und ohne den eine ganze Generation von Nachfolgern wie Christoph Schlingensief nicht denkbar gewesen wäre. Das liegt vor allem an Beuys' bei vielen Gelegenheiten und in verschiedenen Graden der Unverständlichkeit vorgetragenen Thesen, alles sei eigentlich Kunst und die Gesellschaft eine soziale Plastik, also wie ein Kunstwerk formbar.

Die Idee ist eine Art Beuys all inclusive, ein Trip in mehreren Stationen, begleitet von Aufsehern in roten Overalls

Darüber kann man diskutieren. Der Regisseur Stephan Müller hat diese Thesen relativ ernst genommen und kurzerhand den ersten Teil seiner Inszenierung nach draußen verlegt, wo die Gesellschaft ist. Also in den Staatspark Karlsaue. Die Idee ist eine Art Beuys all inclusive, ein Trip in mehreren Stationen durch Werk und Leben, was oft nicht so klar voneinander zu trennen ist. Begleitet von Aufsehern in roten Overalls trotten die Zuschauer zwischen kanalartigen Wassergräben zur ersten Station, kurz gestört von einem Wutbürger, der sich mit dem Fahrrad seinen Weg durch die Gruppe klingelt.

Weil es ja manchmal heißt, dass Beuys mit Frauen nicht so viel anfangen konnte, sind es vier Frauen, die nach einer Art selbstgespielter Death-Metal-Krautrock-Ouvertüre in die Rollen von Beuys, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi und Jannis Kounellis schlüpfen und mit einem Thesen-Best-of das kunsttheoretische Terrain des Abends abstecken. Jeder ist ein Künstler, wir sollen zu Kunst machen, was uns umgibt. Der Park wird zur Bühne, als der Intendant Thomas Bockelmann in der Rolle eines Spiegel-Reporters und Jürgen Wink als Beuys am anderen Kanalufer ein Interview von 1984 nachstellen. Die Zuschauer sind per Kopfhörer aus der Ferne dabei. Weil Beuys das auch mal gemacht hat, steht neben den beiden zur Dekoration ein Schimmel. "Warum ist da ein Pferd?", fragt jemand hinter den Zuschauern. Ein paar Teenies, die sich hier im Park eigentlich in Ruhe besaufen wollten, scheinen sich nicht mehr ganz sicher zu sein, ob sie schon was eingeschmissen haben. Am anderen Ufer erklärt Beuys: "Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt." Dann joggt Wink als Beuys im Pelzmantel mit zwei zufällig vorbeikommenden Läufern davon.

Der Theatertross zieht auch weiter. Kurz schließt sich ein Pärchen mit Hund der Gruppe an. Weil Beuys Professor war, also unterrichtet hat, ist die nächste Station eine Schulklasse, und nur hier kommt kurz der Wehrmachtsfreak vor, also jener Beuys, der sich noch 1961 als "Sturzkampfflieger" bezeichnete, "der alle Sparten der Waffengattung durchgemacht hatte".

Einige jüngere Kunsthistoriker fragen in diesem Jubiläumsjahr, wie viel Naziideologie und Wehrmachtskitsch man bei Beuys eigentlich findet. Andere verteidigen ihn vehement als einflussreichsten Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Kunst und Handeln ihn von jedem Verdacht freispräche. Das Theater Kassel bildet die laufende Debatte ab, indem Eva-Maria Keller als stramme Lehrerin immer wieder von Alojscha Langel als Zwischenrufer unterbrochen wird, der zugespitzt fragt, ob Beuys eigentlich Nazi war. Das ahmt schön die Störung der reinen Lehre des Kunstbetriebs nach, die man gerade beobachten kann, aber es bezieht keine klare Position. Die Wehrmachts- und Hitler-Jugend-Verharmlosungen von Beuys ("Es kann keine Rede sein, dass wir manipuliert worden sind") hätten zentraler sein können.

Wenigstens still schwingt das Thema noch mit, wenn auf den mit Farbbeutelspritzern besudelten Terrassen des Denkmals für die Gefallenen der Weltkriege Beuys' Frankfurter "Iphigenie"-Inszenierung angedeutet wird. Amelie Kriss-Heinrich und Artur Spannagel belauern einander in aufwendigen Kostümen, einer Art Brautkleid und einem glänzenden Anzug. Auf den Kopfhörern läuft der Originalton. Darum geht es in dem Moment aber gar nicht, denn hier werden jetzt die Zuschauer zur Inszenierung, wenn der halbe Park wissen möchte, was da auf dem Denkmal los ist. Eine Gruppe Studenten unterbricht für einen Moment ihr Ballspiel. Schreiende Kinder werden ruhig. Ein alter Mann mit langen weißen Haaren ist sichtlich aufgewühlt. Soziale Plastik, würde Beuys das vielleicht nennen. Der Park ist Kunstmaterial geworden.

Dann stirbt Beuys. Draußen ist Nacht. Das Pathos hallt noch etwas nach

Nach der Suppenpause folgen Stationen im Museum Fridericianum, die nach dem schönen Parcours im Park etwas abfallen: ein lustiges Protokoll von einem Tag in Beuys' Büro auf der Documenta 1971, Intendant Bockelmann jetzt als Bankier Johann Philipp von Bethmann diskutiert wie ein Boxer um ihn tänzelnd mit Beuys dessen naiv-provokante Finanztheorie. Zum Glück unterbrechen die beiden bald die Punkerinnen vom Anfang, diesmal in bunten Ponchos und mit dem Beuys-Song "Sonne statt Reagan". Witzig, aber draußen war es witziger.

Dann stirbt Beuys. Zumindest in einem Text des Malers Per Kirkeby, vorgetragen von Thomas Bockelmann, der zum Ende der Spielzeit seine Intendanz beendet. "Fern von allen Häusern, weit draußen in der diesigen und staubigen Landschaft hatten sie ein großes Zelt aufgeschlagen. So eines, wie es die römischen Feldherren in Gigantfilmen bewohnen. Hier lag der sterbende Beuys."

Das Pathos hallt noch etwas nach. Draußen ist es Nacht geworden in Kassel, und die Welt nimmt nach zweieinhalb Stunden Kunst und einer Gemüsesuppe langsam wieder ihre alte Form an.

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