Bettina Flitners "Meine Schwester":Was hätte man wann wissen müssen?

Bettina Flitners "Meine Schwester": "Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit": die Fotografin und Autorin Bettina Flitner (links) und ihre Schwester, der sie ihr Buch gewidmet hat.

"Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit": die Fotografin und Autorin Bettina Flitner (links) und ihre Schwester, der sie ihr Buch gewidmet hat.

(Foto: Bettina Flitner)

Glückliche Zeiten mit dunklen Wolken: In ihrem Buch über den Verlust ihrer Schwester erweist sich die Fotografin Bettina Flitner als grandios lakonische Erzählerin.

Von Elke Heidenreich

Auf dem Cover zwei schöne Mädchen, die - in einen Spiegel? - schauen, uns, sich ansehen. Schwestern? Das Buch heißt "Meine Schwester". Die eine hat einen Fotoapparat in der Hand. Sie hält den Moment fest. "Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit." Das ist Bettina Flitner, die Fotografin, und sie schreibt hier über sich, ihre Schwester, ihre Familie. Man schaut das verwirrend schöne Foto an, schlägt auf, und nach einer einzigen Seite ist man gebannt bis zum letzten Satz, da sagt die Schwester: "Damit du dich erinnerst."

Es ist ein Erinnerungsbuch. An die Kindheit, an Wunden, Schmerzen, Verluste, an Freuden, Abenteuer, schöne Reisen, Wurzellosigkeit, die ewigen Umzüge mit den Eltern. Aber von Anfang an, von der ersten Seite an wissen wir: Erst nahm sich die Mutter das Leben, dann die Schwester. Der Bruder ruft an, hatte die tote Schwester im Bad gefunden, konnten die Ärzte denn nichts mehr tun? "Die hatten nur noch das Fenster aufgemacht. Das machen sie immer so." Und im nächsten Satz die Erinnerung an einen Anruf 33 Jahre vorher, fast auf den Tag genau, da ist der Vater am Telefon: Die Mutter hat es getan, sie ist tot. Mit 47 Jahren.

Dieses Buch hat Wucht und Zartheit, Emotion und Intelligenz, das Schöne, das Schreckliche, das ganze Leben fächert sich auf, und das in einer Sprache, die immer durchscheinend bleibt, schwebend, wenig Adjektive, es geht schnörkellos klar geradeaus, und der Leser kann nicht aufhören, einer so unsentimental und doch tief berührend erzählten Geschichte zu folgen, von Satz zu Satz, von Land zu Land, von Zeiten zu anderen Zeiten, denn es wird verzahnt, geschickt verschränkt und fast beiläufig erzählt.

Warum wurde die Erzählerin von den Depressionen verschont, die ihre Schwester heimsuchen?

Die Vergangenheit steckt tief in der Gegenwart, wird auch die Zukunft begleiten, alles fließt ineinander, ist immer da, formt das eigene Leben, das eigene Gesicht. Und die Erzählerin weiß, dass, auch wenn man es nicht exakt benennen kann, alles immer schon nebeneinander da war - "Die Angst und der Mut. Die Trauer und die Freude. Sich alles zuzutrauen und sich doch als ein Nichts zu fühlen." Die Mutter, die Schwester. "Doch ich stehe immer mehr daneben. Ich stehe da nicht freiwillig. Aber ich richte mich da ein." Dieses Danebenstehen rettet womöglich ihr Leben.

Für Bettina Flitner, die Fotografin ist und sich hier bei aller Empathie als grandios lakonische Erzählerin mit klar strukturiertem Blick erweist, erklären sich erst in der Erinnerung plötzlich unverständliche Begebenheiten, werden Andeutungen verständlich, die depressive Mutter! Man hätte es doch wissen müssen! Die unsichere Schwester! Wo hat man sie verloren, wo nicht genug aufgepasst? Und wer ist die Erzählerin selbst, wo steht sie, warum wurde sie von den Depressionen, den Finsternissen in dieser Familie verschont?

Der Schmerz und die Fragen holen Vergessenes wieder hervor, unwiederbringlich geglaubte Erinnerungen an glückliche Zeiten mit dunklen Wolken, die man in glücklichen Zeiten nicht sehen will. "Was? Hätte man? Wann? Wissen? Müssen?" Und die Fragen nach dem letzten Mal - wer hat sie zuletzt gesehen, was hat sie zuletzt gesagt, gab es Andeutungen? "Wann hatte es eigentlich angefangen, dass meine Schwester es nicht ertrug, wenn die Dinge nicht mehr heil waren? Wenn sie ein Loch oder einen Riss oder einen Fleck hatten. Immer musste ein kaputter Gegenstand umgehend entsorgt werden. Reparieren war keine Option. Denn keine Reparatur war vollkommen."

Und so entsorgte sich die Schwester, deren Seele nicht mehr zu reparieren war, letztlich selbst. Was aber hatte sie derart zerstört? Der Tod der Mutter, die vielen Ortswechsel, oder steckte es von Anfang an in ihr drin, die schwarzen Raben, die sie verfolgten, die auch die Mutter verfolgt hatten, gegen die man nichts tun konnte? Es gebe eine familiäre Vorbelastung, sagt ein Onkel, es liege in der Familie, eine genetische Komponente. Auch der Großvater, auch eine Tante, ein Onkel ... "Du hast es offenbar nicht geerbt", sagt der Vater beschwörend.

Kann man "das" denn wirklich erben oder schleicht es sich (auch?) aus falschen Weichenstellungen an? Die Schwestern hängen als Kinder eng zusammen und sind doch so verschieden, das zeigt sich beim Älterwerden. Und die Eltern haben sich auseinandergelebt: "Die ausgespuckten Worte und Gesten unserer Eltern kleben auf den Türklinken, dem Treppengeländer, den Möbeln, den Wänden. (...) Sie haben auch uns infiziert." Mutter und Schwester schreien, "es ist von einer gewalttätigen Verletztheit". Und Flitner schreibt: "Meine Mutter und meine Schwester scheinen mir in diesen Momenten gut geschminkte, gut frisierte Schauspielerinnen, die im freien Fall die ganze schöne Bühnendekoration mit einreißen. Und am Ende unter den Trümmern begraben liegen."

Obwohl die Erschütterung spürbar ist, bleibt die Sprache nüchtern

Flitner erzählt von den Trümmern und rekonstruiert die Lebensgebäude, sucht erste Risse, wann fing es an, kann so etwas denn grundlos passieren? Mir fällt zu diesem Buch ein unvergesslicher Satz aus Hans Henny Jahnns Theaterstück "Medea" ein: "Kann grundlos so ein Gott des Lebens Teppich weben? Ist Qual ein Einfall wie ein buntes Muster und alles Händeringen nur ein Ornament?"

Bettina Flitners "Meine Schwester": Bettina Flitner: Meine Schwester. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 320 Seiten, 22 Euro.

Bettina Flitner: Meine Schwester. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 320 Seiten, 22 Euro.

Er kann. Gott ist abwesend, in diesem Buch, in unserm Leben, des Lebens Teppich webt sich selbst aus Qual und Glück, und nichts ist ohne das andere denkbar. So wie Bettina Flitner in ihren Bildern Augenblicke einfängt, hält sie in diesem Buch auch Augenblicke fest, die zu einem Leben zusammenwachsen. Sie tut das mit entschlossener Nüchternheit, trotz ihrer spürbaren Erschütterung. Ihre Sprache ist klar und ohne jedes Pathos, kurze, feste Sätze, nichts wird unter den Teppich gekehrt, nichts beschönigt. Aber auch: nichts Schönes vergessen. Und sei es nur eine 30stel Sekunde gewesen. Sie erzählt, wie sie fotografiert: mit dem unerschrockenen, klaren Blick, der weiß, dass jeder Moment einzigartig ist. Das braucht keine Verzierungen, es leuchtet auch so.

Das Schreiben, sagt Flitner, hat sie gerettet und getröstet. Einmal träumt sie von ihrer Schwester und fragt sie im Traum: "Warum hast du das getan?" Und die Schwester sagt: "Ich weiß es nicht."

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