Beth Ditto: "Music for Men":Die Torte zurückwerfen

Es sind weder die schiere Körpermasse noch die offene Homosexualität, die Sängerin Beth Ditto und ihre Band The Gossip so provokant erscheinen lassen. Ihr Geheimnis liegt in der Furchtlosigkeit.

Jens-Christian Rabe

Als der amerikanische Pop-Produzent Rick Rubin, den man als legendär bezeichnen müsste, würde das Wort noch etwas bedeuten, als jener sagenumwobene Rick Rubin also vor zwei Jahren überraschend von Sony als Chef von Columbia Records verpflichtet wurde, besuchte ihn die New York Times in seiner alten spanischen Villa in Los Angeles. Wenn einer die schwer angeschlagene Musikindustrie würde retten können, so die Zeitung, dann der Mann, der die Beastie Boys produziert, die Red Hot Chili Peppers gerettet und das triumphale Comeback Johnny Cashs möglich gemacht hatte.

Beth Ditto: "Music for Men": Imposant: Sängerin Beth Ditto und ihre BandThe Gossip.

Imposant: Sängerin Beth Ditto und ihre Band

The Gossip

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(Foto: Foto: Sony BMG)

Und natürlich begegnete der Leser keinem schneidigen Manager und seinem Masterplan, sondern einen waldschratartigen Kauz mit monströsem grauen Bart, der in einer tiefen Samtcouch lümmelte und extrem konzentriert neue Aufnahmen einer aufstrebenden Indie-Band aus dem liberalen Portland, Oregon namens The Gossip prüfte, deren sehr übergewichtige Sängerin verschämt als "imposant", aber "etwas grobschlächtig" beschrieben wurde. Gut und schön dachte man, das passt natürlich zum Outlaw-Image des Mannes, aber ist doch sicher nicht alles, was ihm einfällt.

War es nicht. Klar. Er hatte auch noch eine ganze Menge anderer Ideen, um die taumelnde Firma und mit ihr auch gleich das gesamte Musikgeschäft wiederzubeleben. Aber wenn man nun zurückblickt, dann muss man wohl sagen: Eine bessere als die Verpflichtung von The Gossip war nicht dabei. Die Idee war aber auch wirklich überragend. Denn die imposanten Sängerin Beth Ditto hat sich seither eindrucksvoll als ein neuer einzigartiger weiblicher Popstar etabliert. Und davon gibt es trotz des natürlich irrsinnigen Überangebots an Kandidatinnen nur alle zehn Jahre einen. Wenn überhaupt.

Vielleicht ist Beth Ditto sogar die erste seit Madonna, die man als so etwas wie ein weibliches Pop-Originalgenie bezeichnen könnte. Dito Ditto. Die dafür unabdingbare langfristige und strategische "Großklangkörperkommandowirtschaft" (Dietmar Dath) traut man ihr jedenfalls ohne weiteres zu. Dass sie viel besser singen kann als jene, fast ein Vierteljahrhundert ältere große Dame des Pop, wird ihr helfen. Reichen wird es nicht. Es sieht allerdings so aus, als wisse sie das genau.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was Beth Ditto derzeit besser macht als jeder andere.

It ain't over 'til the fat lady sings

Wenn nun "Music For Men" (Columbia / Sony, 2009) erscheint, das vierte Studioalbum der Band, dann tritt der Welt längst nicht mehr nur eine außergewöhnlich selbstbewusste Ikone des Indiepop mit Trailer-Park-Vergangenheit gegenüber, sondern eine virtuose Spielerin, die ihre Berühmtheit zu benutzen versteht.

Die heftige Umarmung der Modeindustrie etwa, die sie bei den Schauen in Paris bis in die exklusive erste Zuschauerreihe der Präsentation des Hungerkünstlers Karl Lagerfeld gelangen ließ, erwiderte sie mit einer kompromisslosen Fotostrecke im zum Vogue-Verlag gehörenden britischen Hochglanz-Magazin Love, in dem sie vollständig nackt posierte. Als ob sie fragen wollte, ob den Herrschaften wirklich klar sei, worauf sie sich mit ihr eingelassen haben: auf den Frontalangriff ihrer Geschäftsgrundlage nämlich, der Definitionsmacht über das herrschende Schönheitsideal. Die Homoehe ist natürlich auch weiter auf der Agenda.

Rumpeliger, körperlicher

Sie war schon das Thema des ersten Gossip-Hits. Mit dem 2006 explizit gegen George Bushs Schwulen- und Lesben-Diskriminierung gerichteten "Standing In The Way Of Control" landete die Band erstmals vor größerem Publikum. Ihre Musik muss man sich auch auf dem neuen Album als Variante der etwa von der britischen Band Franz Ferdinand etablierten Vermählung von Rock, Punk, Disco und elektronischen Sounds vorstellen. Nur etwas rumpeliger, körperlicher vielleicht, weniger kalt entrückt und besonders auf "Music For Men" noch minimalistischer.

Der Produzent und Pop-Essenzialist Rick Rubin dürfte seinen Anteil haben an dieser Profilschärfung. Er war erstmals im Studio dabei. Die große bewegliche Soul-Stimme Beth Dittos sorgt wieder für Wucht und Präsenz, die federnden Basslinien und knappen, schneidigen Gitarrenfiguren des Chef-Komponisten Brace Paine sind originell und das Trommelspiel Hanah Blilies energisch-funktional, discotabel, wenn man so will. Songs wie "Dimestore Diamond" oder "Heavy Cross" sind kleine Meisterwerke, aber auch der Rest des Albums rotzig genug, um das Projekt nicht zu konterkarieren, und eingängig genug, um seinen breiten Erfolg nicht zu gefährden.

Große Popmusik also. Selbst das Cover, auf dem nicht Ditto, sondern Drummerin Blilie mit akkurater Elvis-Tolle aussieht wie ein junger Mann (also wie der Tomboy, der sie ist), spielt glamourös mit der schwebenden Ambivalenz der Band.

Was zu tun ist

Wobei die offene Homosexualität der Band interessanterweise gar nicht die Schlüsselprovokation ist. Ebenso wenig ist es die schiere Körpermasse Dittos, mit der sich das Phänomen erklären ließe. Die ist aus Blues, Jazz oder Klassik wohlvertraut: It ain't over 'til the fat lady sings. Aber auch die dort wieder unübliche offensive Präsentation des Körpers, die fette, weiche, weiße, schwitzende Nacktheit, die Ditto auf der Bühne zelebriert, hat nur begrenzte Erklärungskraft.

Es dürfte etwas dazu kommen, das viel mehr ist: profaner Mut zur konsequenten Exaltation. Denn der bringt den hoffnungsvollen Massenkünstler vielleicht auf die Bühne. Um dort jedoch nicht nur als irre Kuriosität verbraucht zu werden, ist mehr nötig. Viel mehr. Der amerikanische Musikjournalist Lester Bangs hat sich dem Problem des Charismas in der Popkultur 1970 in dem großen, Iggy Pop gewidmeten Aufsatz "Of Pop And Pies And Fun - Ein Programm zur Befreiung der Massen in Form einer Stooges-Rezension" unübertroffen klarsichtig gewidmet:

"Fakt ist, dass 99 Prozent aller Popstars kein echtes Charisma, den Stil oder die Statur haben, ihre Bastille, die Bühne, zu verteidigen, ohne die künstliche Unterstützung, die sie traditionell zu diesem Zweck genießen. Die meisten ,Phänomene' würden nämlich kneifen wie irgendein verblüffter Versager, sobald eine Torte in ihrem Mäulchen landete oder man sie mit einem geistig klaren Publikum konfrontierte, das in aller Ruhe fragte: ,Was soll die Scheiße?'" Der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen und dem echten Popstar sei dem entsprechend, dass letzterer eine von jeder Kokaindiät unzerstörbare Substanz hat, die über sein Tun hinausweise: Er hat "eine Ahnung davon, was abseits seines eigenen glitzernden Nährbodens" abgeht. So ein seltener Fall sind Beth Ditto und ihre Band.

Man kann deshalb übrigens auch nicht sagen, dass The Gossip den Mainstream herausgefordert oder erobert hätten. Dafür sind sie viel zu klug. Sie wissen, dass man den Mainstream nicht herausfordern kann. Er holt sich, was er will. "Don't call us, we call you." Die Kunst, die derzeit niemand so gut beherrscht wie Beth Ditto und Co. besteht darin, furchtlos zu tun, was zu tun ist, bevor der Mainstream auf die Idee kommt, ob er sich nicht doch verwählt hat: Die Torte einfach wieder zurückwerfen. Mit voller Wucht. Was für ein Glück.

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