Besuch in der Kindheit:Die Augen des Teufels

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In ihrem neuen Roman "Schildkrötensoldat" kehrt Melinda Nadj Abonji in den Norden Serbiens zurück und erzählt vom Schicksal eines jungen Untergehers.

Von Karl-Markus Gauss

Zoltán ist nicht ganz richtig im Kopf, aber mit der Welt rund um ihn steht es noch viel schlimmer. Zoli, wie ihn die Familie nennt, war fünf, "als ich wie ein Mehlsack vom Motorrad gefallen bin" - und sein Vater hat es nicht einmal gemerkt und ist ohne ihn weitergebraust. Seither hat er dieses Zittern in den Gliedern, und als er später auch noch von seinem Lehrherrn halb tot geprügelt wird, ist es um ihn geschehen. Aus dem merkwürdigen Kind, das stottert, aber mit den Tieren und den Dingen spricht, wird ein sanftmütiger Jüngling, der im Dorf keine Freunde hat, die Zeit mit seinem Hund namens Tango verbringt und am liebsten Kreuzworträtsel löst: "Ich bin der König der Kreuzworträtsel", kann er zu Recht von sich behaupten. Als er zwanzig ist, schicken ihn seine ratlosen Eltern zum Militär, damit er doch noch zum richtigen Kerl reife möge, aber dort fühlt er sich bald "zum Stiefelidioten" degradiert. Dabei durchschaut der einfältige Rekrut vom Land besser als seine Kameraden, die ihn drangsalieren, worauf sie gerade gedrillt werden. Man schreibt das Jahr 1991, und die Burschen aus den serbischen Dörfern und Städten der Gegend werden in der Kaserne von Zrenjanin aufs Töten und Sterben vorbereitet.

Zrenjanin ist eine Stadt in jener Region zwischen Donau und Theiss, die Vojvodina heißt und in der seit jeher verschiedene Völker zusammengelebt haben. Fast 300 Jahre gehörte sie zur Monarchie der Habsburger, von 1918 an zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, seit 1945 zur föderativen Volksrepublik Jugoslawien, wo sie unter Tito eine weitreichende Autonomie besaß, die während der nationalistischen Mobilmachung nach seinem Tod gekappt wurde. Die 1968 in der Vojvodina geborene Schweizer Autorin Melinda Nadj Abonji hat schon in ihrem ersten, gleich mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Tauben fliegen auf" von dieser Region erzählt. Auch ihr neuer Roman, "Schildkrötensoldat", der sieben Jahre nach dem Erstling erscheint, verbindet die Schweiz wieder mit ihrer pannonischen Kindheitswelt.

Der historische und politische Hintergrund wird von der Autorin nur sparsam, aber geschickt ausgeleuchtet. Wie nebenhin wird klar, dass es sich um ein Gebiet vieler Sprachen und Nationalitäten handelt, in der diese traurige wie poetische Geschichte um einen sanften Rebellen spielt. Zoltáns Vater ist ein halber Zigeuner, deswegen wird noch sein Sohn im Streit als "Zigeunerbastard" beschimpft, die Mutter ist Tagelöhnerin mit einem starken Hang zu kurzen Liebschaften, und alle im Dorf sprechen sie Ungarisch. Der Staat, in dem Zoli und Hanna aufwuchsen, hieß Jugoslawien, jetzt zerfällt er, und am Ende werden das Dorf und Zrenjanjin, die nächstgelegene Stadt - die die Ungarn Nagybecskerek und die 1944 vertriebenen Donauschwaben Großbetschkerek nannten -, in der Republik Serbien liegen.

Hanna berichtet von ihrer Kindheit an einem Ort, der keine Idylle, aber voller Magie war

Gerade dorthin macht sich nach dem frühen Tod von Zoli seine Cousine Hanna auf den Weg, die längst in der Schweiz lebt und in Zürich als Lehrerin arbeitet. Hanna, wechselweise auch Anna genannt, hat einen für die Geschichte unerheblich bleibenden Geliebten namens Serge und eine nicht ungefährliche Neigung zu dem Psychopharmaka Xanax, dessen mild euphorisierende bald von der sedativen, müde machenden Wirkung übertroffen wird. Die Verhältnisse Hannas in Zürich werden bloß angedeutet, aber bald sitzt sie ohnedies schon im Zug nach Budapest, von wo es mit dem Bus in die alte Heimat weitergeht. Hanna fährt gewissermaßen nach Hause in den Krieg und weiß: "Jugoslawien, das Land, in dem du geboren und aufgewachsen bist, existiert nicht mehr."

Jedes Kapitel des Romans hat eine doppelte Perspektive. Zuerst berichtet Hanna von ihrer Kindheit, von dem jüngeren Cousin Zoli, der sie immer ein wenig erschreckt, aber mehr noch gerührt hat, vom Leben in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, das zwar nicht die reine Idylle, aber doch voller Magie und Wunder war. Dann ist es Zoli, der von sich, seiner ihm völlig bewussten Behinderung, dem traurigen Lauf der Dinge erzählt.

Seine kurzen Abschnitte tragen lauter in Großbuchstaben gesetzte Wörter als Titel, was grafisch seiner Obsession, die Welt als Wortwelt von Kreuzworträtseln zu ordnen, entspricht. So hält der Roman die Schwebe zwischen reflexiven Passagen, in denen die Stimme Hannas zu vernehmen ist, und hochpoetischen Abschnitten, in denen der Sonderling auf seine Weise die sonderbaren Dinge beredet, über die sich außer ihm keiner wundert und gegen die niemand rebelliert.

Nicht immer entgeht die Autorin der Gefahr, die Romakultur zu romantisieren

Als Zoli unter die Soldaten gerät, nimmt er als Außenseiter wahr, was den anderen jungen Männern gar nicht auffällt: "In der Armee gibt es Sätze, die fangen irgendwo an und hören woanders auf, und zwischen den Wörtern gibt es keine einzige Verschnaufpause." Was er sagt und wie er spricht, das amüsiert seine Kameraden, aber nur einer, der dicke, kluge Jenö, macht sich nicht über ihn lustig. Als der Einzige, der ihm beisteht, bei einer schikanösen Übung stirbt, zerbricht Zoli am reglementierten Leben der Kaserne. Während ringsum der Wahnsinn des Krieges aufflammt, ist ausgerechnet er es, der für verrückt erklärt wird. Die Ärzte experimentieren mit allerlei Therapien und Medikamenten an ihm herum, aber eines Tages liegt er, aus der Armee entlassen, tot zu Hause am Boden, bei einem epileptischen Anfall an einem Stück Brot erstickt.

Hanna macht sich auf die Reise, um am Grab des Cousins zu stehen und ihm, der ihr fremd war und den sie dennoch liebte, noch einmal nahe zu kommen - und damit auch ihrer Kindheit und dem Land, das nun im Krieg für immer zerstört wird. Was war die Vojvodina, dieses Europa im Kleinen, für sie? Als sie in Zrenjanjin herausfinden will, was ihrem Cousin in der Kaserne angetan wurde, gerät sie an einen Archivar. Dieser "großgewachsene, bleiche Mann" wechselt im Gespräch mühelos zwischen dem Ungarischen, Serbischen, Deutschen hin und her und gesteht Hanna zuletzt, dass es eigentlich seine Pflicht wäre, aus dem Archiv hinauszulaufen und auf dem Hauptplatz der Stadt lauthals "Halt!" zu rufen. In diesem grüblerischen Intellektuellen, der zwischen den Nationalitäten steht, hat Melinda Nadj Abonji eine geradezu mythische Gestalt der multinationalen Region beschworen, wie sie auch Danilo Kiš, der serbisch-jüdische Autor, oder der große, indes völlig vergessene donauschwäbische Erzähler Johannes Weidenheim ersonnen haben könnten.

Viele hochpoetische Passagen und Bilder hat die Autorin gefunden, manchmal aber bietet sie schlichtweg zu viel. Da riecht es im Haus von Zolis Eltern "nicht nur nach Zigaretten, Kaffee, Schweiß und Eisen, sondern nach Schicksal". Die Romantisierung der Romakultur und der Balkankitsch sind Versuchungen, denen sie meist, aber nicht immer widersteht. Welche Eltern hätten je von ihrem Sohn gesagt: "Schau dir diese Augen an, so schaut doch ein Gott oder ein Teufel!" Auch bleibt Hanna, der die flache pannonische Landschaft ein paar nicht sehr inspirierte Gedanken darüber eingibt, dass "wir alle auf die Unendlichkeit zusteuern", als Charakter im Ungefähren; wie sie in der Schweiz lebt, das wird nicht wirklich zum Thema, und darum ergibt auch ein mehrmals erwähntes Detail, wie ihr gewohnheitsmäßiger Konsum von Xanax, keinen erzählerischen Sinn. Gleichwohl ist Melinda Nadj Abonji mit "Schildkrötensoldat" das Schwierige gelungen: auf einen von der Kritik hochgelobten Erstling und internationalen Bestseller einen zweiten, zu Herzen gehenden Roman folgen zu lassen.

© SZ vom 13.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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