Besuch bei John Le Carré:Der Spion, der mit der Schelte kam

Und es ist doch nur der Aufstand des Anständigen - ein Besuch in London bei David Cornwell, der als John Le Carré zum Meister der Agentenromane wurde.

Willi Winkler

"Das mit Grass muss ja ein richtiger Schock für euch gewesen sein!", sagt er zur Begrüßung und ist erstaunt über "so viel Dummheit: Warum hat er es nicht viel früher gesagt?" Und ausgerechnet der "Sprecher der Vergangenheitsbewältigung"! Akzentfrei gehen ihm die schwierigen deutschen Ballungswörter über die Lippen, und er schüttelt wieder den Kopf. "Er hatte doch Mitwisser. Und Akten, es gibt in Deutschland doch über alles Aufzeichnungen!"

Besuch bei John Le Carré: Bei List erscheint jetzt der neue Roman von John Le Carré: "Geheime Mission".

Bei List erscheint jetzt der neue Roman von John Le Carré: "Geheime Mission".

(Foto: Foto: dpa)

Und er musste es wieder und wieder abstreiten vor sich, und baute ein Leben auf dem Verleugnen der SS-Mitgliedschaft auf, immer der Mahner, der die Schrecken der Vergangenheit an die Wand malt, weil sie doch jederzeit wiederkommen könne. Dabei war es doch seine Vergangenheit, die SS - wie kann man das? "Das ist doch", er findet den passenden Vergleich, "das ist doch, wie wenn man hinterher sagt: 'I did not have sex with that woman.'"

Hampsteader begehen Ehebruch und schreiben Romane darüber

Es ist die Terrorwoche im August, und Günter Grass hat gerade bekannt, dass er mit siebzehn in der Waffen-SS war. Der britische Innenminister John Reid spricht von einem "apokalyptischen Anschlag", der der Welt drohte. Von London aus sollten fünf, sechs, sieben Linienmaschinen starten und über dem Atlantik mit Flüssigsprengstoff zur Explosion gebracht werden. George W. Bush wusste es schon vorher und hat den Anschlag mit vermutlich göttlichem Beistand rechtzeitig verhindert. Der Terror hat einen neuen Namen und heißt jetzt "Islamofaschismus". Wer will da nach London fliegen?

Aber in London empfängt ein weltberühmter Mann, der einzige wohl, der die SS-Monate von Grass als Geschmacksverirrung abtun kann: "Das geht einfach nicht. Das ist genauso, als hätte ich zehn Minuten für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet." David Cornwell wohnt auf einem Hügel im Londoner Stadtteil Hampstead.

Auf dem Stück Restheide draußen an der Straße führen die Hampsteader kalbgroße Windspiele und die dazu passenden Gummistiefel aus. Davor und danach begehen sie Ehebruch und schreiben anschließend Romane über ihre Affären in Hampstead. Cornwell hat sich ein niedrigeres Genre gewählt, er schreibt Spionageromane, aber ebenfalls aus eigner Erfahrung. Weil das zunächst ein Hobby war und nicht ganz der Arbeitsplatzbeschreibung des Diplomaten entsprach, musste er sich für seine Bücher einen anderen Namen geben. Seither heißt er für die Welt John Le Carré.

Ja, natürlich war er Spion Ihrer Majestät.

Hinter einer Barrikade steht das Haus als Teil einer viktorianischen Klosteranlage, eingerichtet vor hundert Jahren für jene unglücklichen Töchter, die auch für Geld nicht zu verheiraten waren und denen es hier an nichts mangeln sollte. Dienstboten kosteten damals nichts, und warmes Wasser war nur was für Weichlinge. Gegenüber, eingekreist von dem vielgiebligen Ensemble, ein kleiner, sorgsam verwilderter Park, und für das, was man braucht von der Welt, steht ein deutsches Auto vor der Tür.

David Cornwell ist der Inbegriff eines britischen Gentlemans, ein weißhaariger, unverschämt gut aussehender Mann von demnächst 75 Jahren, der ungebeugt geht, eine erstaunlich bunte Hausjacke trägt und sich abwechselnd über das Traumpaar George Bush und Tony Blair empört und über Grass amüsiert. Unter den Zeitungen und Magazinen auf dem Teetisch liegt der neueste Spiegel, den er liest, seit er als Botschaftssekretär vor bald fünfzig Jahren die deutsche Innenpolitik zu beobachten hatte. Ja, natürlich war er Spion Ihrer Majestät.

In England ist es auch heute noch eine Frage der Ehre, dass man für den Geheimdienst arbeitet, und selbst jene, die dann als Maulwürfe enttarnt wurden, weil sie wie Kim Philby und Anthony Blunt nebenher den KGB beliefert hatten, werden wegen ihres Muts bewundert, wegen ihres Geschicks, jahrzehntelang Informationen zu sammeln, sie so zu sortieren, dass sie dem Feind alles verraten und gleichzeitig eine bürgerliche Existenz im Schutz der Majestät führen können. Verräter sind sie vielleicht, aber doch auch Idealisten.

Der Spion, der mit der Schelte kam

John Le Carré bezeichnet sich als kleinen Fisch (oder wie er auf Deutsch sagt, als "Wurm"), der von 1959 bis 1964 in Bad Godesberg und Hamburg für den britischen Geheimdienst wirkte. Wenn man seine Geschichten über das alte Bonn und die noch älteren Nazis Globke, Achenbach und Oberländer hört, über den Ritterkreuzträger Mende und den Eifer, über das, was alle hätten wissen können, über das, was beschwiegen wurde, dann war dieses Deutschland eine Art unglaubwürdiger Roman: ein von Spionen durchsetztes Land, Dunkelmänner, Schieber, Nachkriegsgewinnler, Wirtschaftswundergauner - alle auf der Grundlage des grad weggeschobenen Nationalsozialismus.

Es ist, als wären Spione die letzten Moralisten

Einmal saß Cornwell mit Oberstaatsanwalt Erwin Schüle von der Ludwigsburger "Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" beim Rotwein zusammen. Schüle erging sich einen langen Abend über die Frage, wie es dazu kommen konnte und warum und alles. Kurze Zeit später kam heraus, dass Schüle Mitglied der NSDAP wie der SA gewesen war. Das war die Bundesrepublik, statt Aufklärung ein moralisches Zwielicht. Wie in den Romanen von John Le Carré.

Moralisch einwandfrei ist keiner seiner Helden, sie tragen ein bürokratisches Grau, eine Farbe, in der sie verschwinden, die sie unscheinbar macht, weil man einen Spion ja doch nicht sehen darf. Der Mann, der für sein Land am Rande der Legalität und noch etwas darüber hinaus operierte, beklagt heute, wie die Bürgerrechte beschnitten werden. Ausgerechnet den ehemaligen Geheimdienstler entsetzt, dass sich ein Großteil der britischen Politik inzwischen im Geheimen abspielt.

Schuld daran ist die hündische Bündnistreue des Premierministers, die Art, "wie er am hinteren Nippel Amerikas nuckelt". Cornwell gehört zu jenen alten Männern, die sich noch empören können, ein bürgerlicher Zorn, der nichts von Politik wissen will, wenn sie die individuelle Freiheit beschränkt, verlogen ist und auch noch so wahnhaft, wie das Beispiel Tony Blair lehrt. "Er ist mit einer politischen Prinzipienlosigkeit gesegnet und hat mit seiner Politik bankrottiert. Doch als Anwalt wie als Banker glaubt er auch noch alles, was er sagt."

Ist Blair wirklich so fromm, wie er tut? "Er glaubt, dass er fromm sei. Ich bin mir sicher, er träumt davon, dass er wie Jesus auf dem Atlantik wandeln könne." Nur für George Bush hat Cornwell noch schönere Tiraden übrig. "Diese Tom-Cruise-Nummer! Sich selber vor der Einberufung nach Vietnam drücken und dann in Pilotenuniform auf dem Schlachtschiff landen!"

Es ist, als wären Spione die letzten Moralisten, weil sie noch zwischen Gut und Böse unterscheiden. Cornwells kurze diplomatische und klandestine Laufbahn hat ihn vor allem mit einem Gefühl für behördliches Funktionieren versorgt. Er war kein großer Geheimnisträger, hat keine Tunnel in Berlin gebaut, von denen die Russen vom ersten Spatenstich an wussten, und er ist auch nicht mit unmarkierten Flugzeugen hinter den Eisernen Vorhang geflogen, um einen abgestürzten James Bond herauszuholen. Seine Arbeit bestand vor allem darin, Menschen zu beobachten.

"Die Wirklichkeit interessiert Leute wie Dick Cheney gar nicht"

Bei der amerikanischen Regierung beobachtet er einen anderen Realitätsbegriff. Rechtzeitig zum Jahrestag der Anschläge vom 11. September kommt ein Senatsausschuss zu dem Ergebnis, dass Saddam Hussein nichts mit den Anschlägen zu tun hatte, dass er den Kontakt zu al-Quaida sogar sorgsam vermieden hat und dass es selbstverständlich keine irakischen Massenvernichtungswaffen gab. Bushs Pressesprecher erklärt dazu, das sei alles altes Zeug, und jetzt gelte es, in die Zukunft zu schauen.

Die Ergebnisse sind tatsächlich nicht überraschend, und jeder, der Zeitung lesen kann, hätte es schon vor dem Irak-Krieg wissen müssen. "Aber die Wirklichkeit interessiert Leute wie Dick Cheney, Karl Rove und früher Wolfowitz gar nicht." Während sich Linke oder Liberale eine Sache von allen Seiten anschauen, gut und schlecht abwägen, um sich dann für eine Lösung zu entscheiden, kümmern sich die Bush-Leute einfach nicht um die Fakten.

"'Wir erfinden die Wirklichkeit, das, was wir machen, ist die Wirklichkeit', sagen die. Die haben nie ein Schlachtfeld, nie einen sterbenden Soldaten gesehen, sie haben nie riechen müssen, wie brennendes Fleisch stinkt. Ich verachte diese Leute, die sich als Botschafter des Humanen ausgeben, sich aber nicht für die Folgen ihrer Taten interessieren. Ich begreife nicht, wie die nachts schlafen können."

Der Spion, der mit der Schelte kam

Wir sind inzwischen zum Mittagessen in einen Pub gegangen, von dem nichts zu erwarten sei. In Brüssel forderte Großbritannien einst Erleichterungen für die im Gaststättengewerbe Beschäftigten. Wie viele das seien, fragte der französische Delegierte. Der Brite nannte eine exorbitante Zahl, worauf der Franzose trocken versetzte: Ein Zehntel vielleicht, der Rest sind Leibwächter, die die Köche vor ihren Gästen schützen müssen. Hier gibt es aber solides italienisches Essen.

Die Bourgeoisie braucht wieder ihre eigenen Demonstrationen

Zusammen mit seiner Frau hat Cornwell 2003 an der Londoner Friedensdemonstration teilgenommen. Für die Polizisten war der Aufmarsch ungehörig, die Lautsprecheranlage wurde vermurkst, und sie mussten anderthalb Stunden warten, ehe sie überhaupt losziehen durften. Am Tag vorher war der Landadel nach London gekommen, um für das Recht auf Fuchsjagd zu demonstrieren, das war mehr nach dem Geschmack der Polizei. Eine Million Menschen stand vor Downing Street. Es erhob sich ein Brüllen, wie Cornwell es noch nie gehört hatte. "Ich hätte gern gewusst, was sich Blair dabei dachte."

Noch in der Erinnerung kann sich Cornwell erregen über diese grobe Missachtung des Volkswillens, gegen den Blair in den Irak-Krieg zog. "Es gab doch eine Zeit, als wir Intellektuellen Einfluss hatten. Heute fragen wir uns (und er sagt es wieder auf Deutsch): 'Was muss noch geschehen, damit etwas geschieht?'" In Deutschland haben sie Einfluss, nach wie vor, siehe Grass. Er ist immer noch amüsiert über dessen Biografie. "Es ist höchste Zeit, dass wir uns aufs 19. Jahrhundert zurückbesinnen, als die Bourgeoisie ihre eigenen Demonstrationen veranstaltete."

Zweimal lässt er während des Gesprächs das Band abschalten. Es ist wie eine alte Gewohnheit, um Freunde zu schützen. In seinen Äußerungen ist er sonst sorglos. Wiederholt hat man ihm vorgeworfen, er sei Antisemit, aber das trifft ihn nicht mehr. "Selbst der glühendste Freund Israel muss sagen, dass der neue Libanon-Krieg ein grunddummes Unternehmen war." Er weiß, dass es einem Engländer leichter fällt, so etwas zu sagen, aber er wünscht sich, dass solche Kritik aus Deutschland käme. Frankreich, Italien, Spanien sind für ihn alle entdemokratisiert, England korrumpiert durch die bedingungslose Kriegbeteiligung.

"Wenn wir sterben dann an Selbstbetrug, Desinteresse und Apathie"

Ein demokratisches Fundament sieht er im Moment nur in Deutschland. "Deshalb wünschte ich mir, dass Deutschland seine Skrupel wegen der Vergangenheit überwindet." Und dann was tut? "Die israelische Politik nicht mehr hinnimmt." Wir werden den Libanon auf den Stand von vor zwanzig Jahren zurückbringen, hat der israelische Oberbefehlshaber angekündigt. Cornwell war vor zwanzig Jahren bei den Recherchen zu seinem Roman "Die Libelle" im Libanon und weiß: "Das war kein schöner Anblick." Die Verwüstung hat sich wiederholt. "Wir reden hier über Kollektivbestrafung, und Frau Merkel sagt, wir dürfen uns keine Kritik an Israel erlauben! Warum eigentlich nicht? Wie viele Generationen müssen vergehen, bis das möglich wird?"

Dennoch wäre es doch besser, Deutschland hielte sich hier mit Kritik zurück. "Wenn man Israel kritisiert, ist man Antisemit, ganz gleich ob als Engländer oder als Deutscher." Cornwell wechselt auf halbwegs sicheres Gelände und kritisiert die israelische Strategie, abgeschaut von den Amerikanern: immer möglichst viele Bomben drauf, plattmachen. "Aber man kann, wie das jüdische Volk besser als sonst jemand wissen sollte, den menschlichen Geist nicht mit Flächenbombardements auslöschen."

Der Krieg findet weit entfernt statt, mit den Terrorangriffen auf die Londoner U-Bahn kommt er schon näher, aber Cornwell sieht eine andere Gefahr für den Westen: "Wenn wir sterben", meint er, "dann sterben wir an Selbstbetrug, Desinteresse und Apathie." Die Medien mit ihrem "eingebetteten Journalismus" haben versagt, haben sich alles erzählen lassen und verbreiten weiter die Lügen der Regierungen. Für Mussolini sei der Faschismus die Identität von Staats- und Wirtschaftsmacht. "Der Unterschied zu damals besteht darin, dass auch noch die Medien dabei mitmachen."

Er kann zürnen wie kein zweiter, aber als Romancier weiß er auch, wann eine Geschichte fällig ist. Zum Schluss fällt ihm noch eine herrliche Anekdote aus seiner Bonner Zeit ein.

Im Auswärtigen Amt arbeitete unter Joachim von Ribbentrop in der Wilhelmstraße ein Archivar im Keller, der sich nicht groß um das kümmerte, was weiter oben vor sich ging. Das Deutsche Reich trat unter Adolf Hitler aus dem Völkerbund aus, holte Österreich heim ins Reich, marschierte in der Tschechoslowakei ein, und Ribbentrop schloss mit Stalin den Nichtangriffspakt, der das Schicksal Polens besiegelte und den Zweiten Weltkrieg auslöste.

Den Beamten im Keller interessierten nur die Akten, die er sorgfältig bearbeitete. Als 1945 die Russen kamen, steckten sie ihn ins Gefängnis, und wenn er nicht in der Einzelzelle war, wurde er mit Mördern und Psychos zusammengelegt. Nach elf Jahren wurde er in den Westen entlassen und meldete sich im Bonner Außenministerium zum Dienst.

Als Beamter hatte er einen übergeleiteten Anspruch auf seinen alten Arbeitsplatz. Die Behörde hatte ihn also nach dem Beamtenrecht brav weiterbefördert. Man wies dem zum Oberregierungsrat avancierten Kollegen seinen neuen Schreibtisch und die alten Aufgaben zu. Im Telefonverzeichnis fand er die vertrauten Namen, die er aus der Zeit vor 1945 kannte. Also begann er seinen ersten Arbeitstag damit, dass er jeden von ihnen anrief. Ins Telefon schnarrte er: "Heil Hitler, wollte mich zurückmelden!"

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