In Enschede ist bekanntlich am 13. Mai 2000 ein Lager mit Feuerwerkskörpern explodiert. 23 Personen kamen damals zu Tode, und ein ganzer Stadtteil wurde verwüstet. Enschede, der Name ließ zuvor an nichts Bestimmtes denken, am ehesten einfach nur an beschauliche niederländische Provinz, jedenfalls nicht an Katastrophen dieses Ausmaßes.
Wenn das Unglück über vermeintliche Idyllen hereinbricht, dann setzt es den vorausgegangenen Zustand ins Unrecht. Irgendwie muss der Friede der Leute von Enschede ein falscher gewesen sein, und das Feuerwerksunglück so etwas wie der Einbruch des Realen. Ein banaler Gedanke zwar, aber doch nicht banal genug, um ihm nicht literarische Gestalt zu geben.
Peter Buwalda hat einen dicken und in Holland sehr erfolgreichen Roman geschrieben, der die Explosion von Enschede als Allegorie heranzieht für ein anderes und vielleicht noch schlimmeres "Feuer unterm Dach". Es geht um die ziemlich dysfunktionale Familie Sigerius, um Mord, Unzucht und, fast möchte man sagen, noch Schlimmeres.
Es geht also um eine jener unglücklichen Familien, die nach Tolstois populärem Satz alle auf ihre eigene Weise unglücklich sind. So wenig der Satz sonst stimmen muss, hier findet er seine Berechtigung: die Familie Sigerius ist auf sehr eigene Weise unglücklich.
Das macht es dann wieder schwer, in der Feuerwerkskatastrophen-Allegorie das notwendige Allgemeine zu entdecken. Was gäbe uns eine beliebige unglückliche niederländische Patchwork-Familie aus Enschede zu denken, wenn ihr Unglück nicht irgendwie Probleme der Zeit und der Gesellschaft reflektierte? Was sagt uns der Familienroman, wenn er nicht zugleich ein Gesellschaftsroman ist?
Ins Singuläre gesteigert
Die niederländische Presse hat Buwalda sogleich als den niederländischen Jonathan Franzen gepriesen. Von Franzen kann man sagen, dass seine Familienromane auch Gesellschaftsromane sind. Auf Buwalda trifft das nicht zu. Er hat seinen Familienroman derart ins Extreme und Singuläre gesteigert, dass die Gesellschaft ringsum unsichtbar bleibt.
Es kommt ja schon einiges zusammen bei Familie Sigerius. Um es so kurz wie möglich zu machen: Siem Sigerius ist ein hochberühmter Mathematiker und Wissenschaftspolitiker, zugleich Judoka und Jazzliebhaber. Sein Sohn Wilbert ist chronisch gewalttätig und sinnt nach abgebüßter Haft auf blutige Rache an seinem Vater, der ihm vor vielen Jahren großes Unrecht zugefügt haben soll. Seine Stieftochter Joni hat, gemeinsam mit ihrem depressiven Ehemann Aaron, in aller Heimlichkeit eine höchst erfolgreiche Internet-Pornoseite aufgebaut, bei der sie auch selbst als Darstellerin fungiert.
Nun, im Jahr 2000, die Handlung springt vor und zurück, kommt Wilbert frei, Joni und Aaron trennen sich, Joni wird später nach Kalifornien ziehen, wo sie einst schon mit den Eltern glücklich an der Bonita Avenue lebte, und dort nach einem kurzen Intermezzo bei McKinsey wieder in die Pornoindustrie wechseln.
Wechselvolle Schicksale
Die Explosion von Enschede ist somit die Zentralachse, um die herum die wechselvollen Schicksale der Familie Sigerius gelegt sind - mit einer Tendenz von schlimm zu schlimmer. Auf den letzten etwa zweihundert Seiten steigert sich Buwalda dann in einen regelrechten Splatter-Rausch hinein. Es wird nach Herzenslust gemetzelt und gesägt, wie man das von einem niederländischen Familienroman nicht unbedingt erwartet hätte.
In der Wahl seiner erzählerischen Mittel ist Buwald nicht zimperlich. Als hätte er etwas schreiben wollen, das die Mittelklasse-Realität von Enschede nicht nur trifft oder schildert, sondern während es sie trifft, auch schon in die Luft jagt. Die Feuerwerks-Metapher passt dann weniger auf das Erzählte als auf das Erzählen selbst: Hier will einer mit Gewalt und notfalls auch gegen alle Wahrscheinlichkeit die Verhältnisse aus dem Lot bringen.
Die Familie Sigerius scheint dabei dann weniger der Gegenstand als nur das Mittel des Erzählens zu sein - irgendwer muss sich ja schließlich all die Gräuel zufügen, die der Autor erdacht hat. Das ist schade, weil damit die realistischen Erzähloptionen auf der Strecke bleiben.
Fast denkt man, es sei Buwalda beim Schreiben irgendwann zu langweilig geworden. Immer nur falsches bürgerliches Stadtrandidyll beschreiben wie Updike oder Franzen reichte ihm offensichtlich nicht.
Dabei kann Buwalda auch solche Verhältnisse anschaulich darstellen: "Während der ersten Monate nach der Scheidung von Margriet hatte sein ehemaliger Kumpel ihn geschnitten, doch nachdem Margret und Wilbert in die Dachkammer über Wijns Culemborger Sportschule gezogen waren, war die Atmosphäre grimmiger geworden. Feindlich. Jahrelang ließ Margriet ihren soliden, aber wütenden Bruder die Kastanien aus dem Feuer holen, Schwesterchen brauchte Geld, Schwesterchen musste zum Spirituosengeschäft."
Kann man verstehen, wenn es ein Autor nach oder neben solcher Kleinmalerei aus dem Leben normaler Leute es auch mal richtig krachen lassen will? Vielleicht hat Peter Buwalda ja dem Genre des Epochen und Generationen überspannenden, in jedes Detail verliebten und deshalb überlangen Dysfunktionale-Familien-Epos den Garaus machen wollen.
Dauernde Selbstbefassung
Vorher aber hat er dem todgeweihten Genre noch mal kräftig gehuldigt. Man könnte sich bei der Lektüre zu der These verleiten lassen, dass der Familienroman eine Gattung ist, bei der sich die Familienangehörigen vorzugsweise miteinander und übereinander unterhalten und streiten.
Eine Außenwelt ist bei dieser dauernden Selbstbefassung kaum vorgesehen, und wenn, dann wird sie nur skizziert. Auch als Wissenschaftsminister kümmert sich Siem Sigerius vornehmlich um die Morddrohungen seines missratenen Sohnes, die ihm per SMS zugestellt werden und lässt dann die Parlamentsdebatte von einem "Double" bestreiten.
Das Problem der Familie Sigerius scheint es zu sein, dass sie keine anderen Probleme hat als sich selbst. Aber vielleicht ist ja auch das Absicht, und Buwalda liefert uns vor der Liquidation des Familienromans zuvor noch seine Pathologie. Es könnte aber auch sein, dass hier gar keine Absicht vorliegt, sondern dass Buwalda einfach beim Schreiben ein bisschen (oder eher: sehr weit) übers Ziel hinausgeschossen ist.
Man fragt sich bei der Lektüre manchmal auch, warum einen eigentlich erfundene Figuren wie Siem Sigerius interessieren sollen. Muriel Spark schrieb einmal, es sei im modernen Roman schwierig, Figuren zu erschaffen, die Lesern etwas bedeuten. In demokratischen Zeiten seien alle Figuren tendenziell gleich uninteressant, mit einer Ausnahme: der Figur des Autors. Wir haben in "Bonita Avenue" zwar erfahren dürfen, wer Siem Sigerius ist, nicht aber, wer Peter Buwalda ist. Das erfahren wir dann vielleicht in seinem nächsten Buch.
Peter Buwalda: Bonita Avenue. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 640 Seiten, 24,95 Euro.