Es ist doch längst alles gesagt über Brecht, wirklich genug geredet über Bäume, die Länder öfter gewechselt als die Hemden und wie furchtbar ist der Schoß noch oder so ähnlich. Das Baalisch-Augsburgische ist ebenso umfassend aufgearbeitet wie seine Laxheit beim geistigen Eigentum. Erst recht sein Umgang mit Frauen, und wie er sie alle ausgenutzt hat: Elisabeth Hauptmann, Marieluise Fleißer, Ruth Berlau, Margarete Steffin, ganz zu schweigen von der Bi, von Marianne Zoff und Helene Weigel. Ein böser Macho war er, ein herzloser Liebesverräter, ein – Brecht! Aber wie gesagt, dazu ist alles gesagt.
Trotzdem hat der Germanist Jan Knopf, der (Augen auf bei der Berufswahl!) sein gesamtes Arbeitsleben mit diesem Brecht verbracht hat, sich an eine weitere Großuntersuchung gemacht. In seinem Buch „Bert Brechts Weimarer Geschichten“ (Berlin: J. B. Metzler 2024. 832 Seiten, 79,99 Euro) überprüft er die bekannten Brecht-Legenden. Eine der schönsten handelt vom Ende der Affäre, die Carola Neher mit Brecht hatte. Hier entdeckt Knopf eine Wandersage, die mit der zeitlichen Entfernung und jedem Weitererzählen immer noch schöner und bunter wurde.
Ende der berühmten Goldenen Zwanziger war die Schauspielerin der Schwarm des Feuilletons und des Boulevards. Sie trug Hosen, fuhr Auto und war im Babylon Berlin der späten Weimarer Jahre die leibhaftige Neue Sachlichkeit. Die Männer warben um sie, Rudolf Schlichter durfte sie malen. Das Porträt hängt gerade in der Mannheimer Jubiläumsausstellung zur Neuen Sachlichkeit, es allein lohnt schon den Besuch. Seit 1925 war Carola Neher mit dem Dichter Klabund verheiratet. 1929 spielte sie die Polly in der Zweitinszenierung der „Dreigroschenoper“, auch in der Verfilmung von G. W. Pabst; Brecht dachte ihr die Titelrolle seiner „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ zu. Den Dirigenten Hermann Scherchen verließ sie und folgte einem „bessarabischen Studenten“, weil der, so Elias Canetti mit nachträglichem Seherblick, „sein Leben aufs Spiel setzen wollte, der nichts fürchtete, kein Gefängnis und keine Erschießung“. In ihrer „unverwirrbaren Zähigkeit“ ging sie mit ihm 1934 in die Sowjetunion, wo sie in Stalins Mordmaschinerie gerieten. Ihr Mann wurde erschossen, sie zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Carola Neher starb 1942 im Gulag.
Woher die Kronzeugin über die viel reproduzierte Szene Bescheid wusste, blieb ihr Geheimnis
Die Wandersage mit Brecht kam 1985 in die Welt, als „Brechts Lai-tu“ erschien. Das Buch geht auf biografische Interviews zurück, die der Brecht-Mitarbeiter Hans Bunge 1959 mit der Brecht-Mitarbeiterin Ruth Berlau geführt hat. Berlau also: „Die Neher war auf einer Tournee und erfuhr unterwegs, daß Brecht geheiratet hat. Brecht ging zum Bahnhof, um sie abzuholen. Der Arzt Otto Müllereisert, ein enger Jugendfreund Brechts, hatte schnell noch Blumen gekauft – weil Brecht selber nie auf so einen Gedanken kam – und sie ihm im letzten Moment in die Hand gedrückt. Der Blumenstrauß sollte Carola Neher beschwichtigen. Sie hat dem Brecht aber die Blumen um die Ohren geschlagen und ist weggegangen.“
Woher wusste Ruth Berlau das alles? Sie war nicht dabei. Brecht war 1959 schon drei Jahre tot, Carola Neher noch viel länger; sie und Berlau kannten sich gar nicht. Hat Brecht vielleicht damit renommiert, wie ihn die Geliebte abfahren ließ? Aber die Blumen, was für ein bühnenreifer Abgang!

Durs Grünbein liest Brechts Notizen:Im ambulanten Archiv
Der Dichter und Büchner-Preisträger Durs Grünbein stöbert in Berlin einen vergnügten Abend lang in den Notizbüchern Bertolt Brechts.
1994 taucht die Szene ohne Quellenangabe und leicht verändert in der Brecht-Biografie des amerikanischen Germanisten John Fuegi auf: „Sofort nach der kleinen standesamtlichen Zeremonie war Brecht zum Bahnhof geeilt, um Carola Neher zu empfangen. Als sie aus dem Zug stieg, stand Brecht da und hielt einen Blumenstrauß. Er sagte ihr, er habe gerade geheiratet, ‚aber das bedeute doch gar nichts‘. Carola Neher warf ihm den Strauß vor die Füße und verschwand.“ Jetzt kriegt er die Blumen nicht mehr um die Ohren, sondern vor die Füße, auch das ist ganz schön dramatisch. Brechts Ausrede, die Fuegi, der wahrscheinlich auch nicht mit am Bahnhof war, als wörtliche Rede überliefert und deshalb in Anführungszeichen setzt, stammt übrigens auch nicht von Brecht, sondern ist eine nachträgliche Bewertung der Dulderin Berlau.
In seiner Doppelbiografie „Klabund und Carola Neher. Eine Geschichte von Liebe und Tod“ (1996) kann Matthias Wegner natürlich nicht auf die Blumen verzichten, „als Brecht, der frisch verheiratete Ehemann, ihr einen Blumenstrauß überreicht (den er sich von einem Freund besorgen ließ, um sie zu beschwichtigen), schlägt sie ihm ‚die Blumen um die Ohren und ist weggegangen‘“. Das ist solide zitiert, nämlich von Berlau, der Bahnhof ist zwar irgendwie verschwunden, aber dafür macht der Erzähler aus der einen Berlau gleich zwei: „Eine andere Brecht-Freundin, Ruth Berlau, die das in ihren Erinnerungen überliefert hat, merkt dazu gestreng an: ‚Carolas Verhalten nach Brechts Heirat war dumm. Für Brecht bedeutete es doch gar nichts, ob man mit Papier und Stempel verheiratet ist.“ Genau, ganz der Brecht.
In einer Version ist das Brechtscheusal gar nicht so richtig scheusalig, sondern ein Träumer
Karin Wieland ist in ihrem Buch „Das Geschlecht der Seele. Hugo von Hofmannsthal, Bert Brecht und die Erscheinung der modernen Frau“ (2017) vorsichtig und leitet ihre Version mit einem distanzierenden „Es heißt“ ein, kommt dann aber mit Ort und Zeit etwas ins Gedränge. Auf den Zug, dem die Geliebte entsteigt, auf den Bahnhof, auf dem sich die Szene abspielt, muss man auch hier verzichten, vermutlich weil auch Wegner ohne dieses Requisit auskam. „Es heißt, als Weigel und Brecht auf dem Standesamt waren, habe sich Carola Neher mit einem ihrer Liebhaber außerhalb des Landes befunden. Brecht, der nicht der Typ Mann ist, der Frauen Blumen schenkt, hat in ihrem Fall wohl eine Ausnahme gemacht.“ Nach „es heißt“ und „wohl“ geht es in den faktischen Indikativ: „Doch ihm war wenig Erfolg damit beschieden, Neher schlägt dem Frischgetrauten seine Blumen um die Ohren und lässt ihn einfach stehen.“ Die Schauspielerin war in dieser Version bei der Heirat im Ausland, konnte aber, weil die Züge 1928 einfach schneller waren als heute, blitzrasch nach Berlin eilen, um dem „Frischgetrauten“ gleich nach der Zeremonie die Blumen hinzuhauen, jetzt wieder um die Ohren.
Im Jahr darauf erscheint die Szene in der Brecht-Biografie des englischen Germanisten Stephen Parker, die 2018 auch im Brecht-Verlag Suhrkamp herauskommt. Da wird nicht lang gefackelt, Berlau und Fuegi vermanscht, aber dafür ist – hello again! – der Bahnhof wieder da: „Brecht marschierte direkt nach der Trauung mit einem Blumenbukett los, um sie am Bahnhof abzuholen und ihr zu erklären, dass die Heirat nichts bedeute. Sie schleuderte ihm die Blumen vor die Füße.“

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Füße, Ohren, egal, Hauptsache, Blumen. Wie Brecht zu dem Strauß kam, wo er doch nicht so der Blumenmann war, diese für uns Romantiker nicht unwichtige Frage, klärt zum Glück Florian Illies in seinem Bestseller „Liebe in Zeiten des Hasses“ (2021). Er reichert die Geschichte auf eine so poetische Weise an, dass einem das Herz aufgeht. Brecht, der Schurke, will heiraten, doch von der Geliebten mochte er auch nicht lassen. „Denn was macht der unmittelbar nach dem Jawort auf dem Standesamt in Charlottenburg?“, fragt Illies seine Leserinnen und Leser. „Er fährt zum Bahnhof, um dort die Geliebte abzuholen. Dumm nur, dass Bertolt Brecht noch immer den Strauß von der Trauung in der Hand hat, müde Osterglocken. Als er Carola Neher am Gleis am Bahnhof Zoo gesteht, dass er vor einer halben Stunde Helene Weigel geheiratet habe, was ‚unvermeidlich‘, aber eigentlich ‚unbedeutend‘ sei, da knallt sie ihm den welken Strauß vor die Füße und rauscht wütend ab.“ Abgang nach links.
Tolle Szene, muss man sagen, und auch das sprechende Detail, das Journalistenschülern immer empfohlen wird, fehlt nicht, hier sind’s die Osterglocken. Das Brechtscheusal ist diesmal gar nicht so richtig scheusalig, sondern ein Träumer, denn wie hätte er sonst die ganze Zeit die Blumen festhalten können, und die Glocken, sie sind so müd geworden vom Vorübergehn der Züge.
Illies begnügt sich auch nicht mit einem schlichten Bahnhof, sondern weiß, dass Carola Neher nach Berlin „den ganzen weiten Weg aus Davos“ gekommen ist, „wo sie ihren moribunden Mann, den Dichter Klabund, gepflegt hat“. Das stimmt auch, Carola Neher hat den Dichter bis zuletzt betreut und war bei ihm, als er am 14. August 1928 in Davos starb. Danach reiste sie nach Berlin, wo sie für die Premiere der „Dreigroschenoper“ zwei Wochen später vorgesehen war, dann aber schwer erkrankte und ausfiel. Brecht und Weigel heirateten acht Monate später, am 10. April 1929, kurz nach Ostern. Ohne die Liebe, ach, ohne die Literatur, wäre doch alles nichts.