Bernhard Schlink: "Die Enkelin":Maßlose Toleranz

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Kurzer Frühling: Beim Deutschlandtreffen der FDJ 1964 tanzen Jugendliche aus Westdeutschland mit. (Foto: Klaus Rose/imago images)

Eine West-Ost-Liebesgeschichte und die Suche nach einer Familie, die es nie gab: Der neue Roman von Bernhard Schlink führt ins Milieu völkischer Siedler.

Von Christian Mayer

Für einen kurzen Moment scheint alles möglich zu sein, damals im Mai 1964. Es sind heitere Frühlingstage beim Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin, weil die Veranstaltung zwar gewohnt straff von der FDJ organisiert ist, aber eben doch einige Freiräume bietet, die man mit etwas Kreativität nutzen kann. Um Frieden und Völkerfreundschaft soll es gehen, um die Strahlkraft des Sozialismus, deshalb kommen auch viele junge Besucher aus dem Westen. Noch heute blickt man etwas ungläubig auf die Fotos, die an jenem Pfingstsonntag vor dem Berliner Café Warschau in der Karl-Marx-Allee oder auf dem Alexanderplatz entstanden - Bilder von Tänzern aus zwei deutschen Staaten, die einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, von Musikern, die mit ihrer Gitarrenmusik den Beatles nacheifern, von Liebespaaren, die Grenzen und Barrieren überwinden wollen.

Natürlich war das eine Illusion. Die SED-Führung zog schon bald darauf wieder die Zügel an, setzte erneut auf Repression und unterdrückte jede Form einer wirklich freien Meinungsäußerung. Die Anhänger der "Gitarrenbewegung" waren bald ebenso verdächtig wie die kritischen Filmemacher und die aufmüpfigen Schriftsteller - das war das Ende vom Beat.

Bernhard Schlink erzählt in seinem neuem Roman "Die Enkelin" von diesem kurzen Frühling der Unbeschwertheit. Der Geschichtsstudent Kaspar ist einer der Besucher von drüben, die während des Deutschlandtreffens die DDR mit eigenen Augen erleben wollen. Vor der Humboldt-Universität trifft er auf Birgit, die von ihrem FDJ-Sekretär Instruktionen bekommen hat, wie man mit Westdeutschen diskutiert. Aber Politik spielt bald keine Rolle mehr, Birgit und Kaspar ziehen in diesem Mai 1964, als alle den Radiosender DT 64 hören und von kleinen Freiheiten träumen, um die Häuser. Bald werden sie ein Paar sein, denn die eloquente Birgit hält nichts mehr in der DDR, sie flüchtet über Prag und Wien in die Bundesrepublik, zum etwas unbeholfenen, aber liebevollen Kaspar, der so schön Gedichte der deutschen Romantik zitieren kann.

Seine Bücher handeln von den Katastrophen der neueren deutschen Geschichte

Eine Liebesgeschichte ist das aber nicht, sondern wie so oft bei Schlink eine Erzählung über die destruktive Macht der Lebenslügen und der Geheimnisse. Denn Birgit ist, als sie sich in Kaspar verliebt, schwanger von einem anderen Mann, einem SED-Funktionär. Birgit fängt an, diese Affäre samt der Folgen zu verdrängen, auch Kaspar erfährt davon nie etwas. Während eines Sommerurlaubs an der Ostsee bekommt sie das ungewollte Kind, sie wähnt sich sicher, dass ihre beste Freundin das Baby im Waisenhaus abgegeben hat.

Schlink erzählt das ganze Drama aus der Rückschau. Im Berlin der Gegenwart ist aus Birgit und Kaspar eines dieser kinderlosen, kultivierten Paare geworden, bei denen man nie so ganz weiß, wann sie das Lachen verlernt haben. Während Kaspar seit Jahrzehnten in seinem Buchladen Erfüllung findet, hat sich Birgit, die heimlich Gedichte schreibt, weiter eingekapselt. Es fällt ihr immer schwerer, ihre Alkoholsucht zu überspielen. Eines Abends findet Kaspar seine Frau ertrunken in der Badewanne. Ein Unfall?

Seit seinem Welterfolg mit "Der Vorleser" haben die Bestseller des 1944 geborenen Schlink immer eine historische Komponente und oft etwas leicht Didaktisches; seine Bücher handeln von den Katastrophen der neueren deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Auch "Die Enkelin" zeigt die Zerrissenheit der Menschen, die sich weder im Osten noch im Westen Deutschlands heimisch fühlen. Doch in diesem Buch gibt es zugleich eine sehr präsente Erzählerfigur, die Gemeinsamkeiten mit dem Autor aufweist: Auch Schlink diskutierte 1964 beim Jugendtreffen in Ost-Berlin mit. Er verhalf einer jungen Frau, in die er sich verliebt hatte, sogar mit gefälschten Papieren zur Flucht aus der DDR. Weil man diese Unmittelbarkeit der persönlichen Erfahrung gut nachvollziehen kann, entwickelt der Roman hier große Sogwirkung.

Der Autor und Jurist Bernhard Schlink, Jahrgang 1944. (Foto: Regina Schmeken)

Nach Birgits Tod findet Kaspar auf der Festplatte ihres Computers ein Manuskript - der Beginn einer Autobiografie. In diesem Text liest er erstmals von Birgits Tochter, die kurz nach dem Pfingsttreffen zur Welt kam, er erfährt auch sonst einiges über ihre Fluchten und ihr Unvermögen, sich endlich auf die Suche nach ihrem Kind zu machen. Und auf einmal hat Kaspars Leben wieder einen Sinn. Der von Trauer und Ohnmacht betäubte Witwer will das schaffen, woran seine Frau gescheitert ist: noch einmal in die Vergangenheit eintauchen und die richtige Abzweigung nehmen.

Schlink schickt seinen Kaspar übers Land, in die mecklenburgische Provinz, zu den völkischen Siedlern, wo er die verlorene Tochter schließlich ausfindig macht. Svenja ist bei ihrem leiblichen Vater aufgewachsen, verbrachte ihre schlimmste Zeit im berüchtigten Jugendwerkhof Torgau, wo die Insassen gezielt gebrochen wurden, und landete dann auf der Straße. Nun führt sie mit ihrem Mann und ihrer 14-jährigen Tochter Sigrun ein Leben in einer Parallelwelt jenseits der bürgerlichen Gesellschaft.

Wie Kaspar diese unverhoffte Enkelin umwirbt, wie er sie befreien will aus dem dumpfen, fremdenfeindlichen Milieu: Darum geht es im zweiten Teil des Buches, das die Schwierigkeiten beschreibt, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in ihrem Weltbild gefangen sind. Schlink hat erkennbar viel recherchiert über die Rechtsradikalen auf ihren abgeschotteten Höfen und die sich autark fühlenden Blut-und-Boden-Gemeinschaften. Aber letztlich scheitert auch er mit dem Versuch, halbwegs plausible Szenefiguren jenseits aller Thor-Steinar-Klischees zu entwerfen. Es geht ihm da nicht anders als Juli Zeh, die in ihrem Bestseller "Über Menschen" von der Begegnung einer Berliner Werbetexterin mit einem Neonazi-Nachbarn erzählt, der mindestens genauso nah am Wasser wie am Bier gebaut ist und am Ende nicht von Gutmenschen, sondern von einer tödlichen Krankheit niedergerungen wird.

Bernhard Schlink: Die Enkelin. Roman. Diogenes, Zürich 2021. 368 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Im Grunde zeigt sich Schlink in seinem neuen Buch als Romantiker alter Schule: Kaspar versucht die Enkelin mit seinem ganzen Bildungs- und Erfahrungsschatz, vor allem mit klassischer Musik, an sich zu binden. Es hat schon etwas Berührendes, wie er sie, als sie ihn endlich in Berlin besucht, jeden Abend mit einer anderen Komposition in den Schlaf wiegt. Er wolle sich ihr "anbieten", heißt es im Roman, genauso wie sich die verstorbene Birgit ihrer Tochter "anbieten" wollte. Diese Demutshaltung passt zu der von Schlink bewusst ambivalent gehaltenen Figur: Kaspar will ganz viel geben, aber nie genau hinschauen. Weil er fürchtet, dann alles zu verlieren. Aber ist jemand, der beim Dorffest der Möchtegern-Germanen die guten alten Volkslieder mitsingt und die dumpfe Nazi-Rhetorik bewusst überhört, nicht prinzipienlos und feige? Eine Frage, die der Jurist und Autor Schlink nicht eindeutig beantwortet.

Kaspars maßlose Toleranz, alles verstehen, alles verzeihen zu wollen und nie eine Tür zuzuschlagen, steht prototypisch für die Haltung des linksliberalen Bürgertums, die manchmal mehr mit Ignoranz zu tun hat; man ahnt, dass hier auch ein Grund für Birgits Verzweiflung liegt. Weil ihr Mann nie den Mut hatte, aufs Ganze zu gehen und endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. Manche Menschen sind ja geradezu dankbar dafür, von der Last eines Geheimnisses befreit zu werden.

Kaspar weiß um seine größte Schwäche, er kämpft bewusst dagegen an. Er wäre gern ein mutigerer Mann. Doch letztlich kann er nicht aus seiner Haut. So wie der Romanautor Bernhard Schlink, Sohn eines protestantischen Theologen, der ganz fest daran glaubt, dass sich Menschen bessern können, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen - mit Glaube, Liebe, Hoffnung.

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