Berliner Volksbühne:Und jetzt tanzt!

Die Volksbühne auf dem Tempelhofer Feld

"Fous de danse" mit Boris Charmatz ist eine Mischung aus Publikumsanleitung zum Do-it-yourself, Nachwuchspflege und so zauberhafter wie verzaubernder Kunst.

(Foto: dpa)

Zum Auftakt von Chris Dercons Intendanz an der Berliner Volksbühne treffen sich 15 000 Besucher und 200 Tanzprofis auf dem Tempelhofer Feld - und lassen eineinhalb Jahre Streit, Hass und Proteste fast vergessen.

Von Dorion Weickmann, Berlin

Der Satz blieb hängen. "Der Dercon ist einfach 'ne coole Sau." Das rau verpackte Kompliment im Frühjahr 2015 im Roten Rathaus, aus dem Mund eines Hauptstadtjournalisten. Da hatte der seinerzeit amtierende Kulturstaatssekretär Tim Renner gerade den künftigen Chef der Volksbühne präsentiert. Chris Dercon, noch Leiter der Tate Modern in London, gab eine Art kunstsinnigen Marlboro Man, legte ein wortwolkiges Konzept vor und versicherte auf Nachfrage: Jajaja, der international gefeierte Choreograf Boris Charmatz werde mit "Kind, Kegel und Fahrrad" nach Berlin ziehen, um dem künstlerischen Leitungsteam der neuen Volksbühne anzugehören. Daraus ist, wie der Berliner sagt: nüscht jeworden.

Weil die Schlammschlacht, die auf Dercons Ernennung folgte (siehe auch SZ vom 9. September), für Charmatz ein "Albtraum" war. "Wer weiß, wie das weitergeht?", sorgte sich der Tanzmacher bei der Pressekonferenz zur Spielzeiteröffnung, die kürzlich in der neuen Volksbühnen-Spielstätte auf dem Tempelhofer Flughafen stattfand. Als Sitzgelegenheit stand das soeben vom TÜV abgesegnete Satellitentheater von Francis Kéré zur Verfügung. Eine Pressholzkonstruktion, für gut gepolsterte Hinterteile geeignet, für andere eher nicht.

Charmatz wohnt jedenfalls bis auf Weiteres in Frankreich und jettet nur sporadisch an die Spree. Genauso rar machen sich Alexander Kluge und Romuald Karmakar, die beiden Film-Avantgardisten, die Dercon 2015 ebenfalls als Kollaborateure annoncierte. Wenig später flog ihm dann sein allzu trendfloskelhaftes Konzept um die Ohren. Er selbst sah sich samt seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock mit Spott und Häme überzogen, als Eventkurator und Vorturner des Neoliberalismus verunglimpft. Zuletzt kippten ihm irgendwelche Vollpfosten tagelang Fäkalien vors Büro. Das war im August. An dem Punkt war der Volksbühnen-Intendant in spe fast so weit, seinen Gegnern den Gefallen zu tun und die Koffer zu packen.

Seit dem Wochenende ist die Ära Castorf endgültig Geschichte

Er hat auch das durchgestanden, aber eine "coole Sau" ist Dercon längst nicht mehr. Er wirkt dünnhäutig, irritiert und fast ein wenig schutzlos. Was zumindest insoweit der Realität entspricht, als ihn der neue Kultursenator Klaus Lederer für eine Fehlbesetzung hält. Genau wie 40 000 weitere Neinsager, darunter etliche Kunst- und Kopfarbeiter-Promis, die dem Museumsmann per Online-Petition die rote Karte gezeigt haben und den Eindruck machen, als würden sie am liebsten Dercons Vorgänger Frank Castorf heiligsprechen und sein Volksbühnenmodell in alle Ewigkeit konservieren.

Seit dem Wochenende jedoch ist die Ära Castorf endgültig Geschichte. Was nach der Dauererregung der letzten Monate einem Wunder gleicht: Dercons Team ist entspannt gestartet, erwartungsgemäß ohne Grußwort des Kultursenators, überraschenderweise ohne weitere Anti-Kundgebungen. Auf dem Tempelhofer Flughafenvorfeld organisierte Boris Charmatz "Fous de danse", eine gigantische Tanzsause, eine Mischung aus Publikumsanleitung zum Do-it-yourself, Nachwuchspflege und so zauberhafter wie verzaubernder Kunst. Wie es sich eben für die neuerdings als "Plattform" etikettierte Volksbühne gehört, die Tanz und Schauspiel und Performance nahbar und nebeneinander in ihr Bühnenschaufenster stellen möchte.

Dass sie sich damit in die Riege rivalisierender Institutionen von Hebbel am Ufer bis Berliner Festspiele einreiht, stört Dercon nicht. Er will auf Alleinstellungsmerkmale verzichten, wie er am Rand der Eröffnung noch einmal bekräftigte. Dieser Verzicht dürfte sich als Hypothek erweisen, denn in der Unübersichtlichkeit Berlins brauchen Künstler verlässliche Ankerplätze und Zuschauer ein klar erkennbares Profil, um Zugehörigkeit zu entwickeln. Genau darauf ist Dercon angewiesen, wenn er die Kritiker loswerden und die Kulturverwaltung auf seine Seite ziehen will.

Spekuliert Dercon auf jungelterliche Partygänger?

Zumindest die rund 15 000 Berliner, die sich bei "Fous de danse" zehn Stunden lang unter blitzblauem Himmel vergnügten, dürfte der Theaterneuling auf Anhieb erobert haben. Den größten Anteil daran hat der Charmeur Charmatz, der die erste Hundertschaft Neugieriger, die Schlag zwölf erschien, binnen Minuten um den Finger wickelte. Beim öffentlichen Warm-up sanken Teenies und Mittfünfziger in balletöse Kniebeugen, um danach mit eigenen Füßen Signaturwerke von Isadora Duncan bis Merce Cunningham zu erkunden.

Im Lauf des Tages schwoll die Besucherschar zur Größe und Wuseligkeit eines Ameisenstaates, darunter zahlreiche Familien mit Kleinkindern, die zwischen Windelwechsel und Keksration sämtliche Mitmachrunden aufmischten. Was die Frage aufwarf: Spekuliert Dercon auf die Klientel jungelterlicher Partygänger, um den Absprung der Castorf-Jünger auszugleichen?

Auf der Spielzeit lastet enormer Druck, das Leitungsteam steht unter Dauerbeobachtung

Die Antwort nach den künftigen Adressaten seines Theaters ist Dercon schuldig geblieben. Aber "Fous de danse" verführte die ewig miesepetrige Hauptstadt sehr erfolgreich zu Amüsement und Kunstteilhabe. Dafür hatte Charmatz zweihundert Tanzschaffende rekrutiert. Auch wenn manche den Auftritt mit einer Marketingmaßnahme verwechselten. So steckte die Staatliche Ballettschule ihre Babyballerinen in Sneakers und ließ sie den klassischen Repertoireknüller "Le Corsaire" tanzen, mit festgetackertem Grinsen im Gesicht, als liefe die Kamera irgendeines Lifestyle-Senders mit. Die Ranschmeißerei wirkte umso peinlicher, als sie an ein delikates Duo anschloss. Brit Rodemund und Christopher Roman bebilderten den minimalistischen, von William Forsythe entworfenen Hand-Schulter-Becken-"Dialogue" derart feinfühlig, dass ihre Schweißperlen wie zarte Schmuckstücke im Sonnenlicht glänzten.

Am späten Nachmittag hotteten Hunderte beim "Soul Train" ab, bevor plötzlich andächtige Stille einkehrte. Anne Teresa De Keersmaeker, das belgische, inzwischen elegant ergraute Mädchen von fünfzig Jahren, zirkelte im sandfarbenen Tellerkleid "Violin Phase" auf den Asphalt von Tempelhof, lässig, aber ohne die geringste Nachlässigkeit, von himmlischer Anmut umweht. Ganz am Ende, als sich die Nacht längst über das Flugfeld gesenkt hatte, beglückte die Divina des zeitgenössischen Tanzes noch einmal hundert nimmermüde Gäste von "Fous de danse". Gemeinsam mit Boris Charmatz deutete sie Bachs "Chaconne" so innig, als wären sie das erste Paar auf Erden. Oder das letzte.

Der Einstand mit "Fous de danse" ist geglückt, Boris Charmatz wird zwei weitere Produktionen im Lauf der nächsten Tage nachschieben. Und dann? Auf Dercons erster Spielzeit lastet enormer Druck, das Leitungsteam steht unter Dauerbeobachtung. In Berlin kann daraus jederzeit Dauerbeschuss werden. Zumal das Aufgebot an renommierten Beiträgern von Tino Sehgal bis Susanne Kennedy nicht darüber hinweg tröstet, dass die Zahl der Schließtage zu hoch, das Programm über den Januar hinaus noch gar nicht bekannt ist. Aber einstweilen haben Dercon und Piekenbrock mit "Fous de danse" ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Darüber sollte niemand hinwegtrampeln.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: