Süddeutsche Zeitung

Berliner Stadtschloss:"Ganz nett", würden Besucher bei einem Provinzmuseum sagen

Doch es geht um das 650 Millionen Euro teure Humboldt-Forum, wo die Ausstellung "Vorsicht Kinder" gerade krachend versagt. Über das exemplarische Scheitern eines Großprojekts.

Von Jörg Häntzschel

Etwas mit Kindern, da kann nichts schiefgehen. So dachten die Verantwortlichen beim Humboldt-Forum wohl, als sie nach einem Thema für ihre zweite Vorab-Schau in der Humboldt-Box suchten. Der fünfstöckige Container mit dem Samsung-Banner hat zwei Funktionen: Er soll helfen, Spenden für die Fassade des benachbarten Schlosses einzutreiben, und die Begeisterung für dessen zukünftigen Inhalt erzeugen, die bislang so bitter vermisst wird.

Doch die Räume in der Box sind eng, und so wurde auch das Thema enger. Und weil das Humboldt-Forum Massenappeal anstrebt, aber auch Seriosität, kam man von den Kindern zum Kinderschutz. Die Ausstellung erzählt davon, was Eltern, Pädagogen und Mediziner über die Jahrhunderte taten, um Kinder vor den Gefahren der Welt zu bewahren, von bösen Geistern bis zur schlechten Ernährung, hier illustriert mit einem Supermarktregal voller Cereal-Schachteln und Softdrinks, dem einzigen heiteren Exponat.

Die erste Ausstellung war so fade, dass Verantwortliche sich öffentlich entschuldigten

Doch in Wahrheit spielen Kinder in "Vorsicht Kinder" ohnehin nur eine Nebenrolle. Eigentliches Thema ist das Humboldt-Forum selbst. Die Schau sei ein "Prototyp" für das, was ab 2019 im Schloss nebenan stattfinden wird, erklärte Gründungsintendant Neil MacGregor bei der Eröffnung. Deshalb muss man sie genauer anschauen.

Seit knapp 20 Jahren reden Kulturfunktionäre und Politiker über dieses größte deutsche Kulturprojekt seit Jahrzehnten. Dass dessen Anspruch immens, dessen Bedeutung epochal sei, darüber bestand bei ihnen nie Zweifel. Doch sollten sie benennen, was dort passieren solle, flüchteten sie ins Wolkige. Klar war nach Jahren der Debatte im Wesentlichen: In den oberen zwei Stockwerken sollte das Dahlemer Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst einziehen, unten war Platz für Gegenwart. 15 Jahre lang wurde mit diesem Konzept geplant.

Vor zwei Jahren holten Angela Merkel und Kulturstaatsministerin Monika Grütters den in England hochverehrten Chef des British Museum, Neil MacGregor. Als Leiter der "Gründungsintendanz" sollte er mit Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Horst Bredekamp von der Humboldt-Universität das Projekt überarbeiten und ihm den fehlenden Funken geben.

Doch nichts funkelte. Stattdessen eröffneten die drei im November die erste Teaser-Ausstellung in der Box. Sie handelte vom Humboldt-Strom und vom Plastikmüll in den Meeren und war so fade, dass Bredekamp selbst später entschuldigend meinte: "Die Ausstellung war eine Spontanidee, Herrschaft!"

Es geht ums Anschnallen und Festhalten. Gezeigt werden Fahrradsitze und Gängelbänder

Nur so viel war dieser und den spärlichen Äußerungen der Gründungsintendanten zu entnehmen: Im Humboldt-Forum wollen sie "Menschheitsthemen" behandeln, Kultur, Natur und Technik zusammendenken. "Dialog der Kulturen" steht nicht mehr auf dem Programm. Bestückt wird die Ausstellung aus allen Berliner Museen. Das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst leben de facto nur noch als Forschungsinstitute in Dahlem weiter. Das Ganze solle, so Bredekamp, ein Museum werden, "wie es bisher noch nirgends existiert", ein Museum, "für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts", eine Institution, die statt "Geht nicht!" sagt "Why not?".

Man würde sich von Bredekamps Enthusiasmus gerne anstecken lassen, wäre es nicht so schwer, ihn mit der neuen Ausstellung zur Deckung zu bringen. Denn statt "Warum nicht?" sagen die Macher von "Vorsicht Kinder" vor allem: Vorsicht.

In sechs Kapiteln handeln sie Aspekte des Themas ab. Es geht um metaphysischen Kinderschutz, hier unter anderem repräsentiert durch die Statue einer italienischen Muttergöttin aus dem zweiten Jahrhundert. Es geht ums Anschnallen und Festhalten - zu sehen sind ein Kleid mit Gängelbändern und diverse Fahrradsitze. Eine stillende Bronze-Isis ist Galionsfigur des Ernährungskapitels, in dem auch Hunger und Übergewicht behandelt werden. Weiter geht es mit Bildung und Migration. Das einzige berührende Exponat sind Magnus Wennmans Fotos von schlafenden Kindern während der großen Flucht 2015 in Südosteuropa.

Ganz nett, würden Besucher beim Rausgehen schulterzuckend urteilen, wäre dies ein Provinzmuseum. Doch wir sind im Zentrum Berlins, zwei Jahre bevor dieses 650 Millionen Euro teure, seit einer Generation diskutierte Projekt eröffnet wird, das mit Objekten aus dem weltgrößten ethnologischen Museum bestückt werden soll. Und MacGregor, dem berühmten Museumsmann, Parzinger, dem Chef der größten europäischen Kulturinstitution, und der Koryphäe Bredekamp fällt nicht mehr ein?

Bemerken sie nicht, wie sie hier mit jedem neuen Schritt in selbstgestellte Fallen treten? Es beginnt beim Thema: Kinder! Das muss ja Spaß machen, nicht zuletzt den vielen Kindern, die mit ihren Klassen oder beim Berlinbesuch hierher kommen. Enttäuscht werden sie feststellen, dass es hier nicht um das Lustige, Berührende, Geniale von Kindern geht, sondern um Kinder als Problem, vor allem von Erwachsenen. Egal, wie gut gelaunt man die Ausstellung betritt, man verlässt sie bedrückt.

Weder die Chronologie der Ausstellung - statt mit Kindern beginnt sie mit Göttern - noch die Auswahl der Themen ist plausibel. Sie spricht viel von Flucht und Migration, verliert aber kein Wort zu Kinderarbeit oder sexuellem Missbrauch. Sie erinnert zu Recht an die Brutalität europäischer Pädagogen in den Kolonien, aber sagt nichts zur Geschichte von Gewalt und Züchtigung in deutschen Schulen und Elternhäusern. Sie zeigt Tragetaschen und Kindersitze, aber ignoriert das Thema, das Eltern gerade viel mehr bewegt, die digitalen Medien. Und wo bleibt das Wichtigste, das Eltern ihren Kindern zum Schutz geben können: Zärtlichkeit, Vertrauen - Liebe?

Offenbar bestand die Aufgabe der drei Kuratorinnen aber ohnehin vor allem darin, die Auftragsliste der Intendanten abzuarbeiten. Der Kolonialismus musste vorkommen und die Religionen, Frauen und indigene Völker, Vergangenheit und Gegenwart, Kostbares und Alltägliches, die Welt, Berlin und natürlich die Humboldts. Zwar sei es mühsam gewesen, die vielen Berliner Häuser zusammenzubringen, stöhnte MacGregor, aber auch das hat man geschafft, auch wenn man das Botanische Museum nicht hätte bemühen müssen, um Müslischüsseln mit Mais, Hafer und Gerste aus dem Bioladen beizusteuern.

Bei so viel Eifer, alles richtig zu machen, sind die Ausrutscher um so bemerkenswerter. Gefragt, warum die Ausstellung zwar "Bibelgeschichten" zeigt, aber nichts aus dem Koran oder dem Talmud, erklärte die Kuratorin Anke Daemgen: "Wir sind in der kurzen Zeit einfach nicht fündig geworden." Ist ihr entgangen, wie hart zuletzt um das Kreuz auf dem Schloss diskutiert wurde und wie sensibilisiert die Öffentlichkeit deshalb für jedes weltanschauliche Ungleichgewicht ist?

Die Schau hätte besser unter freiem Himmel stattgefunden, im Internet oder in Afrika

Doch das viel größere Problem ist gerade der Zwang zur Ausgewogenheit, der dem Humboldt-Forum jeden Sauerstoff rauben wird. So kann "Vorsicht Kinder" nur sagen, was jeder weiß: dass alle Kulturen ihre Kinder schützen, dass dieser Schutz aber auch Gängelung bedeutet. Die Banalität der These wiederum schlägt auf die Exponate durch. Man hat sie ja weder als Kunstwerke aufgestellt, noch lässt sich viel an ihnen ablesen. Sie dienen lediglich dazu, zu belegen, was ohnehin unstrittig ist. So wirken sie doppelt entwertet.

Es wäre leicht gewesen, sich auszurechnen, dass man mit einer Lehrlingsarbeit schlecht Reklame für ein kommendes Meisterwerk machen kann. Wie erfrischend wäre auf dieser "Probebühne" (MacGregor) ein Experiment gewesen: Kinder hätten die Ausstellung kuratiert, Flüchtlinge, oder Vertreter indigener Völker. Die Schau hätte unter freiem Himmel stattfinden können, im Internet, in Afrika oder in den leeren Sälen der Dahlemer Museen. Alles hätte mehr Lust gemacht und mehr Relevanz gehabt.

Den drei Gründungsintendanten ist die Tristesse nicht allein anzulasten. Auch nicht Monika Grütters oder Angela Merkel, obwohl sie das große Staatsprojekt jahrelang vor sich hin dümpeln ließ. Das Ganze leidet auch nicht nur an der Unmöglichkeit der Aufgabe, in einem Fake-Preußenschloss Objekte zu zeigen, die die preußische Regierung aus den Ländern rauben ließ, mit denen man jetzt "zusammenarbeiten" will. Auch die verquere Organisation ist nicht allein verantwortlich: die Vielzahl der Berliner Institutionen, die an dem Projekt beteiligt sind und um Status, Mittel, Einfluss konkurrieren. Die ungeklärte hierarchische Struktur des ganzen Unternehmens. Und die Tatsache, dass die drei Gründungsintendanten erst berufen wurden, als das Projekt fertig geplant war, vor der Eröffnung aber abgelöst werden durch einen Intendanten, der dann wiederum vor vollendeten Tatsachen steht.

Das Unglück geht vielmehr zurück auf eine überkommene Kultur der Expertengläubigkeit, des Konservatismus und der Staatsgläubigkeit. Man konnte das erleben, als Lavinia Frey, Geschäftsführerin der Humboldt Forum Kultur GmbH, bei der Eröffnung nicht die Gäste oder die Vertreter aus Venezuela als erste begrüßte, sondern die Gründungsintendanten. Diese Kultur ist auch dafür verantwortlich, dass drei weiße Europäer, die im Durchschnitt 66 Jahre alt sind, ein innovatives Weltkulturenmuseum erfinden sollen. Dass die Öffentlichkeit von der Planung so wenig wie möglich erfahren soll. Und dass MacGregor als "Gründungsintendant" tituliert wird und sich titulieren lässt, obwohl er nur einen Beratervertrag über zehn Tage im Monat hat, der in fünf Monaten ausläuft. Mit seinem konkreten Konzept wird übrigens erst Ende des Jahres gerechnet.

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Quelle:
SZ vom 12.07.2017
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