Wahrzeichen:Geheime Pläne der DDR für das Berliner Stadtschloss

Berlin historisch - Stadtschloss

Das historische Postkarten-Foto aus der Zeit um 1878 zeigt das Königliche Schloss von der Südseite am Schlossplatz in Berlin, aufgenommen von Photograph Sophus Williams.

(Foto: dpa)

Wie aus dem Nichts taucht ein Gutachten auf, in dem 1950 der Wiederaufbau des Berliner Schlosses eruiert wird. Dabei wurde die Ruine gerade gesprengt.

Von Alex Rühle

Wie das Leben so spielt. Man fährt nach Garching, um ein Klavier abzuholen und kommt zurück mit einem, nun ja, zumindest rätselhaften Dokument. Den ersten telefonischen Reaktionen in Berlin nach ist es sogar eine mittlere Sensation. "Nie gehört", sagt der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser von der Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: "Die DDR soll vor dem Abriss des Schlosses selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, wie teuer der Wiederaufbau wäre? Sind Sie sicher?"

Na ja, es liegt hier auf meinem Schreibtisch, Titel: Gutachten über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses. Und auf Seite 3: "Die Deutsche Demokratische Republik, Ministerium für Aufbau, Allgemeines Bauwesen, Städtebau, erteilte am 12. Oktober 1950 dem Unterzeichneten den Auftrag zur Ausfertigung eines Gutachtens über die Kosten des Wiederaufbaus der Schlossruine."

Zwei Tage später sagt Wilhelm von Boddien vom Förderverein Berliner Schloss e.V. am Telefon, er zittere am ganzen Körper, weil er es gar nicht glauben könne, dass es solch ein Gutachten doch noch gebe, "aber bitte, noch mal von Anfang: Wo haben Sie das her?"

Nun ja. Reporterglück. Hanning Lindner, ein freundlicher Norddeutscher, hat ein Klavier zu verschenken. Beim Abholen in seiner Wohnung in Garching zeigt er irgendwann auf ein Tischchen, auf dem ein kleines Konvolut liegt. DIN A4, orangener Pappeinband, darauf die fein getuschte Silhouette einer barocken Kuppel.

"Ja, seltsam", sagt Lindner. "Anscheinend hat die Regierung der DDR 1950 überlegt, das Schloss wiederaufzubauen." Und warum ist das am Rücken aufgetrennt? "Weil meine Tante es 1973 in ihrer Handtasche nach West-Berlin geschmuggelt hat und das lieber in zwei Portionen machen wollte. Das liegt seit Jahren rum, und ich weiß nicht, wohin damit. Sie sind doch Journalist."

Zum Rätsel wird das Ganze durch den beigefügten Text

Acht Seiten wunderschöne Grundrisszeichnungen, die "Darstellungen der verschiedenen historischen Bauabschnitte" zeigen: Raumübersicht erstes und zweites Stockwerk, ein Schnitt durch die Fassade, Ansicht der Fensterachsen. Hinter den Aufrissen folgen Fotografien aus Kunstbänden der Zwanzigerjahre, die das Schloss in all seiner Pracht zeigen, Eosanderhof, Schlütertreppe, Raumfluchten . . .

Zum Rätsel wird das Ganze durch den beigefügten Text, maschinengeschrieben auf 34 Seiten dünnstem, wässrigblauem Durchschlagpapier. Ein Architekt muss zwischen dem 12. Oktober und dem 13. November 1950, an dem er das Dokument unterzeichnet hat, durch die Schlossruine gelaufen sein und Inventur gemacht haben.

Zunächst resümiert er Abschnitt für Abschnitt den baulichen Zustand: "Kuppel über dem Hauptportal: Gewölbe zu 80% nicht mehr vorhanden, innere Marmorverkleidung und Malerei 80%, Marmorfußboden 90% zerstört, Fenster und Türen fehlen, Marmortreppe unbeschädigt."

Zwischen 1948 und 1950 gab es zahlreiche Versuche, das Schloss zu retten

Im zweiten Teil errechnet er dann die Kosten eines Wiederaufbaus. Er scheint die Methode Pi mal Daumen angewandt zu haben. Das Ganze ist so summarisch wie man es sich nur denken kann:

"28) 102 qm Stuckdecken auf dem Gewölbe der Räume im Erdgeschoss:

qm 150.- 15.300.-

29) 306 qm horizontale Stuckdecken in den 3 Obergeschossen herstellen:

qm 140.- 42.840.-"

Insgesamt, so das Resümee des Architekten, würde der Wiederaufbau 32 Millionen DM kosten (von 1948 bis 1964 trug auch die Mark der DDR offiziell die Bezeichnung "Deutsche Mark").

Nun gab es zwischen 1948 und 1950 verschiedene Initiativen und Versuche, das Schloss zu retten. Es war ja erst in den letzten Kriegsmonaten beschädigt worden. Im Februar 1945 verursachten Brandbomben Feuerstürme, die nahezu alle Prunkräume im Nord- und Südflügel zerstörten. Außerdem erlitt die Fassade während der Kämpfe um Berlin schwere Schäden durch Artilleriebeschuss.

Alle Welt lief Sturm gegen Ulbrichts Plan

Man hätte es aber durchaus retten können. Charlottenburg war stärker zerstört worden als das Schloss. Es gab denn auch verschiedene Initiativen und Appelle von Seiten der Bürger, Künstler, Historiker, das Schloss fürs Erste durch Überdachung zu sichern und später wieder aufzubauen.

Im Oktober 1948 analysierten Bausachverständige des Magistrats von Groß-Berlin den baulichen Zustand des Schlosses und kamen zu dem Fazit, dass der Wiederaufbau durchaus möglich sei. Noch im Juni 1950 plädierten Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung des Magistrats dafür, nichts zu überstürzen.

Gerade am Großen Bruder Sowjetunion könne man doch sehen, wie man verantwortungsvoll mit künstlerisch wertvollen Baudenkmälern umgeht: "Die deutsche Delegation für Städtebau konnte sich insbesondere in Leningrad davon überzeugen, mit welch großem Einsatz dort die Wiederherstellung z. T. zerstörter ehemaliger Zarenschlösser im Gange ist."

Walter Ulbricht aber erklärte auf dem 3. Parteitag der SED am 22. Juli 1950: "Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, müssen zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden können."

Damit war der Abriss beschlossene Sache, das Schloss musste einem Aufmarschplatz weichen. Hunderte Kunsthistoriker, Architekten, Stadtplaner aus Berlin und aller Welt liefen danach zwar Sturm gegen Ulbrichts Plan, die Führung und DDR-Regierung aber wischten alle Proteste mit dem Hinweis vom Tisch, schuld an der Schleifung seien die Angloamerikaner, die das Schloss zerbombt hätten.

Schon von September an wurde gesprengt

Alle Befürworter sprechen von "unbeugsamem Starrsinn", einer "unbegreiflichen Blindheit" oder "völliger Verbohrtheit", die ihnen bei Diskussionen mit Regierungsvertretern entgegenschlug.

Vom 7. September an wurde gesprengt. Wie kann es da sein, dass im Oktober vom Ministerium für Aufbau ein solches Gutachten in Auftrag gegeben wird? Es wäre nahezu absurd zu glauben, dass solch ein Auftrag hinter dem Rücken Ulbrichts vom Aufbauministerium auf eigene Faust erteilt wurde. Im Sommer und Herbst 1950 waren große innerparteiliche Säuberungsaktionen im Gange. Niemals hätte ein Ministerium in dieser Atmosphäre einen derart dreisten Alleingang gewagt.

Noch etwas ist seltsam: Die Erstellung des Gutachtens fällt in die Zeit der größten Sprengungsarbeiten. Das war nun kein diskretes Abtragen. Am 2. November schrieb der Kunsthistoriker Walter Henschel in einem Brief: "Gestern war ich privat in Berlin. Während ich in den Museen war, dröhnten die Sprengschüsse vom Schloss herüber. Dann sah ich den Schauplatz der Tragödie (. . .) Ich bin wahrhaftig an den Anblick von Ruinen gewöhnt, aber dieser Anblick hat mich fertig gemacht."

Gezeichnet ist das Dokument nur mit einem Kürzel

Der Gutachter muss mitten durch diese Zerstörungsorgie gelaufen sein: Am 19. Oktober wurde die Südostecke der Schlossfassade gesprengt, am 23. das Portal I., am 4. November der Schlüterhof vernichtet. Im Gutachten findet sich von alledem kein Wort, ja es klingt so, als sei das Gebäude seit Kriegsende nicht angetastet worden.

Gezeichnet hat der Architekt nur mit einem Kürzel, das entweder als Le oder Lo zu lesen ist (einzelne Lettern der Schreibmaschinenschrift verschwimmen immer wieder).

Versteckt sich hinter dem Kürzel der Architekt Kurt Walter Leucht? Leucht war Anfang 1950 in besagtes "Ministerium für Aufbau" berufen worden, wo er die Abteilung Städtebau aufbaute. Er war eine der zentralen Figuren in den ersten Jahren des Wiederaufbaus.

Anfang 1950 nahm er an einer Reise in die Sowjetunion teil, auf der die ostdeutschen Architekten und Stadtplaner auf Kurs gebracht wurden: Nach ihrer Rückkehr verfassten Leucht und seine Kollegen "Die 16 Grundsätze des Städtebaus", eine Art Masterplan für den Aufbau der DDR.

Darin wird betont, dass im Zentrum der Stadt "die wichtigsten politischen, administrativen, kulturellen Stätten liegen. Auf den Plätzen im Zentrum finden politische Demonstrationen, Aufmärsche und Volksfeiern statt." Am 6. September wurden die 16 Grundsätze verabschiedet, am Tag danach begann der Abriss.

Plötzlich doch noch ein rätselhafter Hinweis

Das Gutachten findet keinerlei Erwähnung in der reichhaltigen Literatur zum Berliner Schloss. Selbst in Bernd Maethers mehr als 400-seitiger Monografie "Die Vernichtung des Berliner Stadtschlosses" aus dem Jahr 2000, die auf mehr als 200 Seiten Schriftverkehr, Einreichungen, Petitionen faksimiliert, ist davon nichts zu lesen. Und auch im Bundesarchiv, Abteilung DDR, findet sich zumindest bei der ersten Suche einer Mitarbeiterin nichts darüber.

Dann plötzlich doch noch ein Hinweis: Auf der Homepage des Fördervereins Berliner Schloss steht in einem Unterkapitel: "Die Abrissarbeiten dauerten fast ein halbes Jahr. Seine Wiederaufbaukosten (. . . ) wurden in einem von der DDR-Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten mit 32 Millionen Mark der DDR angegeben."

Aufgeregter Anruf bei Wilhelm von Boddien, dem Vorsitzenden des Fördervereins. Wo er das denn herhabe? Boddien sagt, er habe mal eine Durchschrift eines solchen Gutachtens besessen, angefertigt im Auftrag der Regierung. Geschrieben von einem Herrn Le.? Unterzeichnet am 13. November 1950?"Nein, meines wurde im September vom Architektenbüro Thron & Partner erstellt." "Haben Sie das noch?" "Nein, das hat jemand verschlampt. Ähm, dürfte ich Ihres wohl mal sehen?"

Mit dem Geld, das der Abriss und der Aufmarschplatz kostete, hätte man das Schloss sichern können

Zwei Tage später ein mindestens ebenso aufgeregter Rückruf aus Berlin: Es handelt sich tatsächlich um ein anderes Gutachten. Das seltsamerweise auf genau dieselbe Summe komme wie das von Thron.

Boddien ist überzeugt, dass beide Gutachten nur angefertigt wurden, um der Regierung ein weiteres Argument für den Abriss an die Hand zu geben. 32 Millionen, wo soll das Geld herkommen, wir müssen abreißen. Ein Facharbeiter verdiente damals 120 Mark im Monat. Wahrscheinlich hätten die Ministerien beide Gutachten sofort in ihren Giftschränken verschwinden lassen.

Boddien: "Aber Abriss, Trümmerbeseitigung und Platzgestaltung kosteten dann auch acht Millionen. Mit demselben Geld hätte man die Ruine sichern können, ein neues Dach bauen, Fenster und Beschussschäden provisorisch schließen können, um den Bau trocknen zu lassen und nach und nach zu restaurieren, so wie es in West-Berlin mit Charlottenburg geschah." Man hört sein Seufzen durch den Telefonhörer von Berlin bis München.

Ein letzter Anruf bei Herrn Lindner, bei dem das Dokument all die Jahre in der Wohnung lag. Er weiß nur wenig: Die ältere Schwester seiner Mutter lebte in Ostberlin. 1973 zog sie in den Westen. Sie war mit der Familie des Architekten bekannt. Angehörige dieser Familie baten die Tante dann, das Gutachten mitzunehmen.

Wie der Architekt heißt? Warum die Familie wollte, dass das Dokument in den Westen kommt? All das hat die Tante mit ins Grab genommen. Aber immerhin gibt es jetzt für die Nachwelt diesen gut erhaltenen Durchschlag mit Originalzeichnungen.

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