Süddeutsche Zeitung

Berliner Schule:Melancholischer Esel

Was hält Menschen zusammen, und was die Fragmente eines Films? "Ich war zuhause, aber..." von Angela Schanelec.

Von Philipp Stadelmaier

Es gibt Filme, über deren Handlung man besser nichts verrät, um den Zuschauern nicht das Vergnügen zu nehmen. Und es gibt Filme, deren Handlung man von vorne bis hinten nacherzählen kann, ohne auch nur irgendetwas über sie zu verraten. Weil es in ihnen nicht um die Handlung geht, ihre Wahrheit woanders liegt. Zu diesen Filmen gehört Angela Schanelecs "Ich war zu Hause, aber ...", für den sie auf der diesjährigen Berlinale den Preis für die beste Regie gewonnen hat.

Zunächst einmal, das ist ein großartiger Einstieg, sehen wir nur Tiere. Ein Hund saust über sonnige Hügel, jagt einen Hasen. Dann ein Stall. Ein Esel tritt auf. Der Hund ist dabei, den Hasen zu verspeisen, der Esel schaut melancholisch aus dem Fenster. Dann ein Sprung nach Berlin. Ein Junge zieht sich in einem dunklen Raum die Schuhe aus, legt seine Hände reglos aufs Knie. Dann sitzt er in einem Büro, in derselben Haltung. Am Fenster steht ein Mann. Auf seinem Schoß liegt eine gelbe Jacke. Eine Frau betritt den Raum, geht zu dem Jungen, kniet vor ihm nieder.

Die Frau, Astrid, wird gespielt von Maren Eggert. In Schanelecs vorherigem Film "Der traumhafte Weg" (2017) hatte sie eine Schauspielerin verkörpert, die sich gerade von ihrem Mann trennt. Hier ist sie die Witwe eines Theaterregisseurs. Der Junge heißt Phillip (Jakob Lassalle), ihr Sohn, der von zu Hause abgehauen ist. Außerdem hat sie eine kleine Tochter. Immer mehr entfremdet sie sich von ihren Kindern. In der zweiten Hälfte brüllt sie die beiden an und wirft sie aus der Altbauwohnung, während ihr Freund verdattert am Frühstückstisch sitzt und sich an seinem Marmeladenbrot festhält.

Was hält Menschen zusammen, und was die Fragmente eines Films? Darum geht es oft bei der deutschen Filmemacherin. Der neue Film schwingt sich ein wie ein Pendel zwischen den Szenen, die er vielleicht verknüpft, vielleicht nicht. Es beginnt mit den Tieren, geht weiter mit der gelben Jacke des Jungen, die Astrid in die Reinigung gibt, und mit einem Fahrrad, das sie einem Mann abkauft, und das sie, als es nicht mehr funktioniert, zurückgeben will. Dann ist da die Schultheatergruppe, die Shakespeares "Hamlet" probt. Und auf einer Konferenz diskutieren die Lehrer, ob sie den aufmüpfigen Phillip von der Schule verweisen sollen.

Ein verbindendes Element ist die Müdigkeit. "Mein Geist wird matt, ich möcht ein Weilchen ruhen" heißt es bei Shakespeare. Die Lehrer auf der Schülerkonferenz sind erschöpft, und Phillip singt seiner Schwester zum Einschlafen "Moon River" vor. Auch deswegen denkt man an ein Pendel: Die Schauspieler und ihre Figuren wirken, als hätte man sie mit einem solchen hypnotisiert, in Tiefschlaf versetzt. Was nicht heißt, dass sie nicht bei der Sache wären, im Gegenteil. Sie sind im höchsten Maße konzentriert. Die Müdigkeit mobilisiert Kraftreserven, erlaubt ein mechanisches Spiel, das Bewegungen und Sprache verlangsamt und ihnen Klarheit verleiht. Man nehme die Dialoge. Niemals wirkt etwas wie beiläufig gesagt oder aus dem Leben gegriffen, sondern stets literarisch, verdichtet, zugespitzt. Man unterhält sich nicht, man verliest sehr bewusst einen geschriebenen Text (das Drehbuch). Besonders deutlich wird das, wenn sich Astrid mit dem Dozenten einer Kunsthochschule über einen Film unterhält, den er gemacht hat. In diesem trifft eine Tänzerin auf eine sterbende Frau. "Die Inszenierung des Sterbens ist, so glaubt der Regisseur, die Befreiung davon." Wenn Maren Eggert diesen Satz sagt, hört man jedes einzelne Komma.

Astrid wirft dem Künstler vor, die Wahrheit der Sterbenden mit dem Schauspiel der Tänzerin zu verzerren, und diese Diskussion breitet Schanelec vor uns aus wie die quälend lange Kamerafahrt, mit der sie die zwei begleitet. Der Tod ist für Astrid ein Garant der Wahrheit jenseits allen Schauspiels. Die Wahrheit, die jene erwartet, die aus ihrem Schlaf nie wieder aufwachen wollen. Astrid spricht vom Verlangen nach der warmen Erde, das einen schon unter der heimischen Bettdecke beschleicht: Ich war noch zu Hause, aber - schon mit einem Bein im Grab. Sie selbst geht in der Mitte des Films in den nächtlichen Wald, wo sie einschläft. Gleichzeitig ist dies, darauf weist der Künstler hin, nur ihre Wahrheit. Also vielleicht nicht unbedingt die Wahrheit Schanelecs. Der Weg zur Erkenntnis besteht eher in genauem Zuhören. Die nicht-sprachlichen Laute der Tiere eröffnen den Reigen. Danach besteht der Sinn der Dialoge vielleicht nicht darin, was, sondern wie es gesagt wird. Mal wird es extrem laut, etwa wenn Astrid ihre Kinder anbrüllt, mal ganz leise, wenn Phillip der Schwester vorsingt. Der Lehrer, gespielt von Franz Rogowski, lispelt. Und der Mann, der Astrid das Fahrrad verkauft, kann sich nur mit einem Gerät verständigen, das er sich an die Stimmbänder presst. Was er sagt, klingt ganz metallisch. Schanelec untersucht Töne und Stimmen, die sie lauter oder leiser stellt oder sogar bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Im Gespräch mit einem Lehrer ihres Sohnes fragt sie sich plötzlich: "Wie redet man eigentlich mit einem Heizkörper?" Da sagt man sich, dass Schanelec den Stimmapparat ihrer Figuren wie einen Heizkörper zerlegt und in seinen Röhren lauscht, was mit Stimmen und Lauten geschieht, wenn sie verhallen, sich verzerren und verlieren. Ist man am Ende des Films schlauer als am Anfang? Vielleicht ein wenig. Man weiß, die Wahrheit liegt in einem Heizkörper. Doch ein Heizkörper, so Astrid weiter zum Lehrer, "sieht anders aus". Wie genau er aussieht, das zeigt uns Schanelec nicht.

Ich war zuhause, aber..., Deutschland, Serbien 2019. Regie, Buch, Schnitt: Angela Schanelec. Kamera: Ivan Marković. Mit Maren Eggert, Jakob Lassalle, Franz Rogowski. Piffl Medien, 105 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2019
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