18. Berliner Poesiefestival:Dichtung bewirkt nichts, sie überdauert

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Unter Leselämpchen: Es gibt auf dem diesjährigen Festival großartige Entdeckungen, zum Beispiel die 1981 in Wroclaw geborene Dagmara Kraus: "millionen flüchtige wörter/ stehen an der grenze zu diesem gedicht."

Von Hans-Peter Kunisch

"Flimmernde Gestalten" laufen an Wänden entlang, entfernen sich von dem Motel, in dem ihre Beobachter, auf Vogelschau im südlichen Arizona, übernachten. Die Grenze zu Mexico ist nah. "Im Gesicht eines Jungen dieselbe Blässe wie die / verbleichten Cholla-Kakteen im Hinterhof." Einer kommentiert: "Illegale". Das Ich des Gedichts von John Burnside denkt eher an "meine Großmutter, die drei Wochen// von Dublin entfernt,/ blind auf Crosshill hielt, ein Mädchen mit kaputtem Schuhwerk/ und einem Reisekoffer aus Pappe."

Das 18. Berliner Poesiefestival, das noch bis zum kommenden Samstag läuft, steht unter dem Motto "Europa - Fata Morgana". Das passt gut zu diesem Kontinent und politischen Gebilde, das nicht weiß, wie es mit Leuten umgehen soll, die es mehr bewundern als die Europäer selbst und die nach wie vor ihr Leben aufs Spiel setzen, um es zu erreichen. Der Lyriker John Burnside aber, ein zweiundsechzigjähriger Schotte mit irischen Wurzeln, der die diesjährige "Berliner Rede zur Poesie" halten durfte, fand mühelos einen Weg, die Problematik auf die "westliche Welt" und die eigene familiäre Vergangenheit auszudehnen.

Wie kann ein Gedicht aussehen, das von Gegenwart erzählt, ohne Medienweisheiten zu wiederholen? Beinahe zu heutig wirkten die Texte von James Noël. Bis man las, dass der 1978 geborene Haitianer sein work in progress "Die Migration der Mauern" 2012 publiziert hat, deutlich vor der neuen Aktualität. Bei James Noël ist die Mauerfrage noch ein "Tabuthema", "Achtung (...) da stellt sich die ganze Welt tot", doch "die Zivilisation der Mauern ist an ihr Ende gekommen./ Sollen die Mauern wieder tragen, müssen sie eingerissen werden." Mit Sprach- und Erkenntnisspielen setzt Noël seine Hoffnung auf "ein blutjunges Maurervolk", das "eines Tages (...) kommen wird. (...) Ein Maurervolk als treibende Kraft beim Einreißen der Mauern. Ein über brünstige Kräne abgesetztes Maurervolk."

James Noël war einer der Dichter der Poesienacht "Weltklang", mit der das Festival am vergangenen Freitag vor mehreren Hundert Zuschauern in der Berliner Akademie der Künste eröffnet wurde. Eine der Entdeckungen des Abends war die 1981 in Wrocław geborene Dagmara Kraus: "millionen flüchtige wörter/ stehen an der grenze zu diesem gedicht." Mit einer simplen "Verwechslung" zieht auch sie die Aktualität in ihre Lyrik: politisches Geschehen als Gegen-, Neben- und Ineinander von Sprachen: "dunkle wörter, dunkle fremde/ suchen nach zuflucht/ wollen hier wohnen/ verjaschmokt, betschadort." Dagmara Kraus lässt die Sprachen ihre Grenzen aufgeben, führt sie zusammen: "niedeutsche slowa/ drängen sich hier in die futura/ rece blagajk, bebeten die grenzen/ deine, deutschyzno, moja." Provozierend heiter experimentiert sie: "wörter aus dem buch der könige/ hocken im containerdorf: umfwörter/ aus saba, noch milchschorf im haar/ labern babel."

Dichtung bewirkt nichts, sagt der Schotte John Burnside, sie überdauert nur

Wie weit das Spektrum des diesjährigen Weltklangs gespannt war, zeigt das Nebeneinander von Yasuki Fukushima und Mila Haugová. Fukushima, 74 Jahre alt, trat mit Hut auf, hollywoodreif, beweglich, effektsicher, wie die Parodie eines Stars. Spaßig sentimental ironisierte er sich, gab den vergangenheitsseligen 68er, Boxer und Liebhaber, erfolgreich, in die Zeit gezogen, dann wieder von ihr ausgespuckt. Während Fukushima bei dünnen Texten vor allem durch Bühnenpräsenz brillierte, war klar, dass Haugová, nur um ein Jahr älter, in Budapest geborene Slowakin, darauf keinen Wert legte. Was sympathisch sein kann, aber hier zum zügig wirkungsvergessenen Lesen der anspielungsreichen, bildungsgesättigten Texte führte, die gegen ihre Autorin keine Chance hatten.

Es war allerdings für alle Autoren und Zuschauer schwierig, gegen eine seltsame Neuerung zu bestehen. Vorgetragen wurde, wie immer, im Original. Die Übersetzung aber blieb, obwohl eine große Leinwand zur Verfügung stand, unprojiziert. Stattdessen wurden Leselämpchen und Büchlein verteilt. So las ein des Slowakischen, Japanischen oder Polnischen nicht mächtiges Publikum die Übersetzungen zu Hunderten gebückt vor sich hin, während die Dichter auf der Bühne beinahe unbeobachtet blieben. Wer öfter aufblickte, fühlte sich in einer Lichterpunkte-Performance, deren konsequente Steigerung wäre, die betroffenen Dichter gar nicht auf die Bühne zu bitten, Stimmen kann man ja problemlos zuschalten ... Glück hatten da die Lyriker der in Berlin gängigeren Sprachen, wie Jan Wagner, der wieder einmal zeigte, dass auch einfachste Alltagsgedichte mit Sujets wie der kräftigen Präsenz von Giersch im Garten von sorgfältigem Vortrag profitieren.

Aber vielleicht ist jedes gute Gedicht so zäh wie Giersch, "schickt seine kassiber/ durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,/ bis irgendwo erneut ein weißes wider-//standsnest emporschießt." So ähnlich muss man wohl Burnsides Rede zur Poesie verstehen, der mit Yeats meinte: "Dichtung bewirkt nichts: sie überdauert." Sie kann nicht mehr sein als "eine Art Zufall, ein Mund". Doch gerade indem Lyriker ihre Wichtigkeit nicht auftrumpfend einklagen, verleihen sie ihren Wörtern die Gelegenheit, mit überraschender Präsenz zu überzeugen.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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