Berliner Galerien:Auf Teleskop-Beinen

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Alice Neel stand lange im Schatten der Abstrakten, heute wird sie gefeiert. Aurel Scheibler zeigt ihre politischen Gemälde, darunter „Longshoremen Returning from Work“ (1936). Abb.: The Estate of Alice Neel / Courtesy Aurel Scheibler, Berlin (Foto: The Estate of Alice Neel / Courtesy Aurel Scheibler, Berlin)

Katastrophe, Alltag, abgestreifte Jeans: Wenn Galeristen am wenigsten Publikum erwarten, zeigen sie oft die interessanteste Kunst. Ein Rundgang in Berlin.

Von Astrid Mania

Zweimal im Jahr, zum Gallery Weekend und zur Berlin Art Week, zeigen sich die Galerien von ihrer vermeintlich besten Seite. Entdeckungen aber macht man in den ruhigen Zeiten - wie jetzt, vor Weihnachten.

Bilder aus Honig und Leder - Anna Virnich

Anna Virnichs ungegenständliche Bilder strahlen eine ungeheure Kraft und Energie aus. Doch sie malt nicht mit dem Pinsel - ihr Medium sind Stoffe, die sie auf die Leinwand heftet, näht und tackert. Von ferne wirkt vieles verhalten. Auf "Untitled #45 (Nov 16:16)" etwa dominiert gebrochenes Weiß. Lediglich zwei annähernd quadratische Formen in Braun und Rosé und zwei schmale Streifen in Schwarz und einem tiefen Blau legen sich darüber. Unter dem Braun schimmert die Leinwand durch, als ob ein Pinsel seine Farbe nur ungleichmäßig abgegeben hätte. Dieser Effekt verdankt sich einem Gewebe, das Virnich beinahe bis zum Zerreißen gespannt hat, mit einer Vehemenz, wie man es gemeinhin den Gesten der abstrakten Expressionisten zuspricht.

Von der gleichen physischen Präsenz sind die Werke aus der Serie "Leather", mit Wachs behandelte Lederstreifen, ebenfalls auf bloße Leinwand aufgebracht. Ein eigentümlicher, unangenehmer Geruch geht von den nahezu monochromen Bildern aus, deren bräunliche Honigschlieren an Spuren von Körperflüssigkeiten denken lassen. Selten hat eine Künstlerin die klischeehafte Dualität aus männlich-kraftvoller expressiver Malerei und weiblicher Kreativität, traditionell - und lange Zeit gezwungenermaßen - im Textilen ausgedrückt, so entspannt implodieren lassen.

Anna Virnich: Wärme. Arratia Beer. Bis 27. Januar.

Die Welt der Sabber-Sphinx - Lindsay Lawson

Und selten dürfte es einen so trostlosen Ort von Künstlerhand gegeben haben wie Lindsay Lawsons runtergerocktes Toilettenambiente. Beim Betreten der Galerie versperrt eine Kulisse aus drei vermeintlichen WC-Türen den Blick und den Weg. Davor, auf dem gefliesten Boden, liegt der Abfall eines trivialen Alltags und weniger einer wilden Party: ein Duftbaum, Flaschen, leere Zigarettenschachteln, ein benutztes Kondom, eine tote Ratte, Kleidungsstücke, eine Windel, Essensreste und ein Tampon. Dazwischen kauert über einer Toilettenschüssel eine seltsame Gestalt, eine sphinxartige Halbfigur mit Hoodie, aus deren Mund müdes Wasser läuft.

Wer sagt, dass ein Zimmerbrunnen beruhigt und die Laune hebt? Hinter den hölzernen Verschlägen dampft eine achtlos abgestreifte Jeans unhygienisch vor sich hin, und auch über ein Holzbrett, das mit dem Fuß in einer Mülltüte steht, rieselt Wässriges.

Dies ist ein Unort, ein Abort. Selbst die Titel der Werke sind eine einzige Absage: "Nah", "Nope" und "Nein" (alle 2017) heißen die drei großen Skulpturen, die kleinen hat Lawson mit einem Alphabet der Nutzlosigkeit versehen - von der "Abandoned Bottle" über ein "Pointless Band-Aid" bis zum "Weary Big Gulp". Und doch sind es sorgsam angefertigte, in Grau glasierte Keramiken. Grau sind auch die Schwingtüren und die sonderbare Sabber-Sphinx: Es ist, als beträte man eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Die Farblosigkeit schafft, auch konzeptuell, Distanz. Und so steht man nicht in den Spuren der Außenwelt, sondern inmitten eines Bildes, in der eindringlichen Außenprojektion eines Zustands von Ermattung und Verweigerung.

Lindsay Lawson: Nope. Gillmeier Rech. Bis zum heutigen Samstag.

Blinker im Paarschritt - Anna Grath

Anna Grath testet ihre Materialien buchstäblich und metaphorisch auf Stabilität und Dehnbarkeit. Manche ihrer fragilen Gebilde aus vorgefundenen Stangen, Gestellen, Schläuchen, Röhren oder Schnüren hängen wie ein zartes Mobile an der Wand und üben sich im Gleichgewicht ("Peng", 2015), andere haben ihre Eigenlast einer wagemutigen Verschnürung anvertraut ("Mieder", 2017). Manche Skulpturen scheinen sich in den Raum vorzuwagen, ihn mit Tentakeln oder Fühlerschläuchen zu erkunden, um irgendwann, vielleicht, auf ihren Teleskop-Beinen vorwärts zu staksen oder, wie "Ness" (2016), mit einem Bürostuhluntersatz argwöhnisch-bedacht davonzurollen. Ganz Widerspenstige stemmen sich gegen ihren Raum. "Strebe" (2017) ist wie eine Teleskopstange zwischen zwei Mauern eingespannt, steht mit ihrem Fußteil jedoch so an der Wand, dass der Raum zu kippen scheint.

Anna Grath hat aber auch Sinn für lakonischen Humor. Unsentimentaler als in "Iloveyou" (2016), einer Korktafel mit Kreidespuren, dicht gedrängten Pinnnadeln, der titelgebenden, klein gekritzelten Liebeserklärung und Fransenbordüre, kann man kein Gefühl gestehen. Und in ihrer "Quadrille" (2017) verharren vier orangefarbene Fahrradblinker in ihrem Paarschritt auf einer Art Trockengestell. Eine unterschwellige Spannung ist in allen Werken spürbar. Sie füllen so mühelos den Raum, weil sie sich im Grunde ausstrecken möchten, langsam oder auch in einer plötzlichen Entladung.

Anna Grath: Port de Bras. Haverkampf Gallery. Bis 23. Dezember.

Protelarisches New York - Alice Neel

Eine Entdeckung im strengen Sinne ist die 1984 verstorbene Alice Neel zwar nicht. Auch wurden der gegenständlich Arbeitenden in ihrer Heimat, den USA, im hohen Alter Ehren, Weihen und eine Retrospektive zuteil, und doch wird ihr Werk von der Abstraktion überstrahlt. Hierzulande ist sie ohnehin kaum bekannt, was sich mit der zur Zeit in den Hamburger Deichtorhallen gezeigten großen Ausstellung ändern dürfte, die sie als ebenso gnadenlose wie grandiose Porträtistin zeigt. Aurel Scheibler hat parallel dazu eine kleine, feine Schau mit überwiegend politisch motivierten Werken aus den Dreißiger- und Fünfzigerjahren bestückt. Auf "Nazis Murder Jews" (1936) etwa hält ein Demonstrant dem Betrachter das titelgebende Plakat entgegen, während die Straße hinter der Menschenmenge seltsam aus der Perspektive kippt.

"Save Willie McGee" schreibt sie auf das Transparent einer anderen Gruppe, die sich unter einer Statue Benjamin Franklins versammelt hat und für die Freilassung eines wegen vermeintlicher Vergewaltigung angeklagten Afroamerikaners eintritt. Das Elend und die Armut ihrer Zeit haben sie nicht losgelassen: Auf "Synthesis of New York. The Great Depression" (1933) schleppt sich eine Gruppe aus Totenkopfgestalten durch die graue Stadt, darüber schweben Schaufensterpuppen-Engel.

Neels Werke aus jener Zeit machen Anleihen bei der Neuen Sachlichkeit ebenso wie beim Surrealismus, und auch die entschiedene Kontur eines Max Beckmann ist ihr nicht fremd. Bei Alice Neel aber ist die Haltung nicht minder entschieden.

Alice Neel: The Great Society. Aurel Scheibler. Bis 20. Januar.

Musical-Massaker - Ellen Cantor

Ellen Cantor, 2013 früh verstorben, hat sich im Rahmen ihrer feministisch motivierten Ausstellungsprojekte auch um Alice Neel verdient gemacht. Dabei gehört Cantor selbst nicht zu den geläufigen Namen des Kunstbetriebs. Wer die großartige Ausstellung im Künstlerhaus Stuttgart im Vorjahr nicht besuchen konnte, kann Cantor nun bei Isabella Bortolozzi sehen.

Die bescheidene, aber darum nicht weniger verstörende Präsentation beschränkt sich auf zwei Filme, die neben einer Videoarbeit von James Richards und Steve Reinke auf einem Monitor gezeigt werden. Cantor folgt auch hier ihrer Arbeitsweise, Found Footage aus Hollywoodfilmen zur Illustration biografischer Momente wie emotionalen Erlebens heranzuziehen.

In "Within Heaven and Hell" (1996) montiert sie Szenen aus so unterschiedlichen Filmen wie "The Texas Chain Saw Massacre" und "The Sound of Music" ineinander, um im Voiceover von einer so leidenschaftlichen wie leidensvollen Beziehung zu erzählen. Die brutalen Filmbilder und das drohende Unheil im Musical-Idyll spiegeln Cantors Emotionen. Die Künstlerin macht die eigene, weibliche, sexualisierte Erfahrungswelt zum Thema ihrer Kunst und bindet sie gleichzeitig in größere Narrationen über Gewalt und Liebe, gelungenes und dysfunktionales Miteinander ein.

Ellen Cantor, James Richards, Steve Reinke: The Mausoleum of Lovers . Isabella Bortolozzi. Bis 19. Dezember.

© SZ vom 16.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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