Süddeutsche Zeitung

Berlinale:Sänk ju very matsch

"Alone in Berlin" mit Daniel Brühl könnte gut funktionieren - mit einigen künstlerischen Entscheidungen weniger. Spike Lees "Chi-Raq" zeigt Frauen im Sexstreik: "No peace, no pussy!"

Von David Steinitz

Die zwei beliebtesten Festivalsportarten der diesjährigen Berlinale: Serien-Bashing und Flüsterpost.

Auf dem wuseligen "European Film Market" wurden in den letzten Tagen nicht nur zahlreiche Filmdeals abgewickelt, sondern auch heiß diskutiert, ob der große Hype um Serien sich nicht zu einer gefährlichen Blase entwickle.

Weil mittlerweile viel zu viele Produktionsfirmen, Verleihe, TV-Sender und Streamingdienste in diesem Segment mitmischen und langsam auf allen Kanälen eine heftige Serieninflation drohe - was im Ergebnis niemandem mehr, aber allen weniger Zuschauer bringen könne. Die mächtigen Player Amazon und Netflix dürfte dieses Gemurmel eher wenig kümmern - ganz im Gegensatz zu einer anderen Festival-Entwicklung.

Kinofilme wieder edel auf der Leinwand statt als Ramsch auf dem Bildschirm

Obwohl die Streamingdienste in den letzten Jahren erfolgreich die Filmmärkte der großen Festivals geplündert hatten, zeichnet sich 2016 eine andere Tendenz ab: Die Macher von prestigeträchtigen Kinoproduktionen vertrauen derzeit wieder eher auf traditionelle Kinoverwertung, wenn sie ihre Werke zum Verkauf anbieten.

Bereits zur Eröffnung der diesjährigen Festivalsaison in Sundance hatte sich dieser Trend abgezeichnet, weil so mancher Filmemacher Angst zu haben scheint, dass sein mit viel Künstlerfleiß produziertes Werk zur Streaming-Ramschware für die Massen verkommen könnte. Dann lieber weniger Geld und weniger Zuschauer, aber dafür klassisch und edel im Kino, scheint die Devise zu lauten.

In der Praxis des Berlinale-Filmhandels sieht das so aus: Netflix wollte gerne die Romanze "Southside with You" erwerben, über das erste Date zwischen Michelle und Barack Obama; Amazon bemühte sich um den Indie-Film "Loving" - aber in beiden Fällen bekamen jetzt klassische Kinoverleihe den Zuschlag. Ob das wirklich eine Trendwende oder nur ein Zwischentief ist, bleibt abzuwarten.

Schlechtgelaunte Kritiker erwarten "Alone in Berlin"

Und nun zum laufenden Berlinale-Wettbewerb und damit zum Phänomen der Festival-Flüsterpost im Berlinale-Palast. Dort war von Tag zu Tag lauter geunkt worden, dass im diesjährigen Wettbewerb wohl ein richtiger Riesenschmarrn bevorstehe, und zwar das Drama "Alone in Berlin" nach dem Roman "Jeder stirbt für sich allein" von Hans Fallada. Wenn sich so ein Gerücht in den langen Schlangen vor dem großen Premierenkino verstärkt, dann sitzen im Ergebnis über tausend Filmkritiker mit schlechter Laune im Auditorium - und das wünscht man ja nicht mal Til Schweiger.

Ganz so miserabel, wie die Gerüchteküche es prophezeite, ist die deutsch-französisch-britische Koproduktion nicht geworden. Die authentische Geschichte eines Berliner Arbeiter-Ehepaars, deren Sohn im Zweiten Weltkrieg fällt und das daraufhin Pamphlete gegen Hitler und seine Nazis in der Stadt verteilt, war bereits in der Vorlage von Fallada aus dramaturgischen Gründen sanft romantisiert worden.

Künstlerische Entscheidungen treiben den Film in die Lächerlichkeit

Diese Romantisierung des Stoffs setzt der Schweizer Regisseur Vincent Perez kräftig fort. Er baut "Alone in Berlin" zu einem richtigen Melodram aus, was streckenweise auch ganz anständig funktioniert. Wären da nicht einige saublöde künstlerische Entscheidungen, die den Film unfreiwillig komisch machen.

Die schlimmste: Da es sich um eine Koproduktion mit Schauspielern aus verschiedenen Herkunftsländern handelt, man dem Film aber trotzdem anmerken soll, dass er in Berlin spielt, sprechen alle Englisch mit deutschem Akzent. Und zwar nicht nur die deutschen Schauspieler wie Daniel Brühl, der einen fiesen Kommissar spielt. Sondern auch die englischsprachigen Hauptdarsteller Emma Thompson und Brendan Gleeson. Sie haben sich einen absurden Sauerkraut-Sound zugelegt und sprechen mit bemüht germanischem Einschlag. Sänk ju very matsch.

Wirklich gute Filme beleben die Stimmung auf der Berlinale

Dass darüber keine allzu große Festivaldepression ausbrach, lag an zwei anderen Filmen. Zunächst an der sehr schönen Schriftsteller-Komödie "Genius", die kurz darauf im Wettbewerb zu sehen war. Der Film ist das Kinodebüt des gefeierten britischen Theatermachers Michael Grandage und erzählt vom legendären New Yorker Lektor Maxwell Perkins (Colin Firth), der in den whiskeyvernebelten Zwanzigern F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Thomas Wolfe herausbrachte.

Gerade zu Letzterem, der wild und wahnsinnig von Jude Law gespielt wird, verband ihn eine tiefe Freundschaft. Wie die beiden Männer im Zigarettenrauch von Perkins' Büro an Manuskripten arbeiten, an Sätzen und Wörtern feilen - das inszeniert Regisseur Grandage als irren und absurden Trip, nicht nur in die überdrehten Zwanziger, sondern auch in die Geheimnisse der Sprache.

Das ist keine kleine Kunst, scheitern Schriftstellerbiografien doch oft daran, dass ein Mann an einer Schreibmaschine noch keinen spannenden Film macht. Große Hilfe dürfte bei der dramaturgischen Taktung dieses schwierigen Stoffes der Drehbuchautor John Logan geleistet haben, der zuletzt mit "Skyfall" die James-Bond-Reihe zu neuen Höhen geführt hatte.

Lee hat aus der klassischen Komödie "Lysistrata" ein buntes Hip-Hop-Musical gemacht

Der andere Erheiterungsbeitrag im Wettbewerb - außer Konkurrenz - war Spike Lees Musical "Chi-raq": eine sehr freie Hip-Hop-Variation der griechischen Komödie "Lysistrata" von Aristophanes. Darin verhandelt er die brutalen Ghettokriege in Chicago, der US-Stadt mit der höchsten Mordrate - und zwar in Form eines knallbunt durchchoreografierten Spektakels mit Samuel L. Jackson als Erzähler. Lees Pointe: Alle Chicagoer Frauen - allen voran seine Lysistrata (Teyonah Parris) treten in einen Sexstreik, damit die dauerlynchenden Herren endlich zur Räson kommen mögen. Motto: "No Peace. No Pussy."

Ganz so heiter wird es aber nicht weitergehen, weshalb sich die Festivalflüsterpost jetzt um Folgendes dreht: Werden Jury-Präsidentin Meryl Streep und ihre Co-Juroren durchhalten, wenn morgen im Wettbewerb das philippinische Kino-Essay "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" zu sehen ist? Der dauert pinkelpausenunfreundliche acht Stunden.

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Quelle:
SZ vom 17.02.2016
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