Süddeutsche Zeitung

Berlinale-Wettbewerb:Fegefeuer

Willem Dafoe läuft seiner Seele hinterher, in Brasilien will das Zeitalter der Sklaverei nicht enden, und die digitale Ökonomie ist nur noch zum Lachen.

Von Philipp Stadelmaier

Ein Mann hat sich in den verschneiten Bergen in eine Hütte zurückgezogen. Hier lebt er allein mit seinen Schlittenhunden, die ihn stets zu beobachten scheinen. Nur ab und an kriegt er Besuch von Fremden, deren Sprache er nicht versteht. Eine alte Frau und eine junge Schwangere kommen vorbei; er trinkt mit der Alten und schläft mit der Jungen. Oder fantasiert er das alles nur? Immer wieder wird er in der winterlichen Düsternis von Visionen heimgesucht, voller Blut, Kampf, Geschrei und Exekutionen.

Der Mann ist die Hauptfigur des neuen Films von Abel Ferrara, "Siberia", der mit den Beiträgen von Kelly Reichardt und Philippe Garrel zu den Highlights des bisherigen Wettbewerbs der Berlinale gehört. Gespielt wird er von Willem Dafoe, der hier schon zum sechsten Mal mit Ferrara zusammenarbeitet. Irgendwann steigt der Mann, sein Name ist Clint, in den Keller hinab, aus dem plötzlich eine steile Felswand wird. Clint fällt in eine Grotte, in der die Sonne aufgeht, wie das Licht der Hölle. Im Wasser erscheint ihm sein Vater als sein eigenes Spiegelbild. "Deine Seele ist außerhalb von dir", raunt der Vater ihm zu, "und du musst sie dir wieder aneignen."

Ferraras Film ist ein mystischer Trip, ein Fiebertraum. Um seine Seele wiederzufinden, durchquert Clint eine Welt, in der es keinen Unterschied gibt zwischen dem Innen (Träumen, Visionen und Erinnerungen) und dem Außen, in dem er nahtlos vom Eis in die Wüste oder einen Wald gelangt. Die Klimazonen folgen aufeinander so flüssig wie Gedanken. In einer Höhle und an einer Oase trifft er seinen Vater wieder, und in einer Hütte begegnet er seiner Ex-Frau, die ihm verkündet: "Du hast mein Leben zerstört."

Clint hat sich schuldig gemacht, ein egoistisches Leben geführt. Nun stolpert er durch die Räume und Zeiten wie durch ein Purgatorium, schwankend zwischen Hölle und Erlösung. Ferrara entwirft eine Zwischenwelt unter ästhetischer und spiritueller Dauerspannung, einen Malstrom an Bildern, der zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht, Eis und Hitze dahinfließt. Wenn Clint dabei seine Seele und sein Selbst nicht wiederfinden kann, so hört er doch nicht auf, diese Welt weiter zu durchwandern. Ebenso, wie Ferrara unermüdlich die Bilder montiert und in immer neue übergehen lässt.

Auch der Wettbewerbsfilm "Todos os mortos / All die Toten" von Caetano Gotardo und Marco Dutra erzählt von einem Übergang, allerdings einem historischen. Wir sind im Saõ Paulo von 1899. Vor nicht zu langer Zeit wurde in Brasilien die Sklaverei abgeschafft, wo sie sich länger gehalten hatte als in allen anderen westlichen Ländern. Der Film kreist um eine Familie der weißen Oberschicht. Die Mutter ist untröstlich über den Tod ihrer Haushälterin; ihre Tochter, eine Pianistin, leidet unter nervösen Zuständen. Die zweite Tochter ist Nonne. Um Mutter und Schwester zu heilen, holt sie eine ehemalige Sklavin in den Haushalt zurück, Iná (Mawusi Tulani), die im Stadthaus der Familie ein afrikanisches Ritual ihrer Vorfahren durchführen soll.

Wenn die Nonne Iná auch zu ihren "heidnischen Praktiken" drängt, so hat sie als brave Katholikin doch nichts als Verachtung für sie übrig. Immer wieder spricht sie von "eurer Sprache, euren Riten", und gerade in diesem Bestehen auf der "Andersartigkeit" der Schwarzen zeigt sich das Fortleben alter Herrschaftsformen auch nach der Befreiung der ehemaligen Sklaven. "Alte Dinge, die sich nur neu tarnen", so formuliert es Iná einmal treffend. Überhaupt sind die besten Momente des Films jene, in denen Iná zur starken Persönlichkeit aufläuft, die den weißen Herrinnen Kontra gibt.

Die Geister der ausgebeuteten und ermordeten Sklaven defilieren in der Fantasie der labilen Pianistin durch das Stadthaus. Auf einmal dann, während die Handlung aus dem Jahr 1899 weitergeht, sehen und hören wir mitten im Film die Zeichen der Gegenwart: Straßenlärm, Graffiti, Autos. Die Figuren nehmen davon keinerlei Notiz. Auch die Mitglieder der Soares-Familie können also nicht aufhören, wie in einem Theater ewig ihre Rollen weiterzuspielen, auch wenn sie im Jahr 2020 längst der Vergangenheit angehören. So wird das Stadthaus zur mikrokosmischen Blase, die sich aus der Geschichte abgelöst hat und auf ihrer Oberfläche weitertreibt.

Die Botschaft ist eindeutig: Die weiße Oberschicht unterdrückt die Schwarzen noch immer; das vom Faschisten Bolsonaro regierte Brasilien setzt das Zeitalter der Sklaverei fort. Auf filmischer Ebene bleibt diese Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit leider reine Behauptung. Die beiden Epochen verschränken sich nie wirklich, interagieren nicht miteinander. So etwas wäre Abel Ferrara nicht passiert.

Die geschichtliche Realität von Sklaverei und Rassismus lässt sich nicht ohne Weiteres löschen. Ein Browserverlauf schon. Bei Videos, einmal im Internet gelandet, wird es schon schwieriger. Mit solchen Problemen schlagen sich die Figuren in "Effacer l'historique / Verlauf löschen" herum, einer Satire des französischen Regieduos Benoît Delépine und Gustave Kervern, die schon zum dritten Mal im Berlinale-Wettbewerb vertreten sind.

Der Film spielt in einem kleinen französischen Dorf, in dem es zwar keine Arbeit gibt, aber dafür (wie überall sonst) genug zu konsumieren. Bertrand (Denis Podalydès) und Marie (Blanche Gardin) sind mit Sonder- und Vorteilsangeboten beschäftigt, mit Krediten und Kreditkarten sowie einem Haufen an Technik, der sich nur noch in einem heillosen Knäuel an Ladekabeln manifestiert. Das Internet bestimmt das Leben. Noch die Rückwand von Maries Gefrierfach ist vollgeschmiert mit Passwörtern, und selbst ihre Plastikwasserflaschen lässt sie sich von einem an Amazon angelehnten Unternehmen liefern. In einem grandiosen Kurzauftritt spielt Benoît Poelvoorde einen ausgelaugten Fahrradkurier, der über verräterischen Kaffeeflecken auf seinem Lieferbeleg einen Nervenzusammenbruch kriegt: In Billigjobs wie seinem sind Kaffeepausen ein Kündigungsgrund.

Zum Klassenkampf von oben gesellen sich die Schläge von unten. Marie wird mit einem Sexvideo erpresst, Bertrands Tochter leidet unter Internetmobbing. Da kann nur noch "Gott" helfen, ein Hacker, der in einem Windrad wohnt und die entsprechenden Daten löschen soll. Doch im Zeitalter von Cloud Computing sind selbst Gott die Hände gebunden. So schickt er seine französischen Schäfchen nach Irland und Kalifornien, um sich ihre Privatsphäre direkt von den Servern der Tech-Giganten zurückzuholen.

In Ferraras Film stand der Übergang zwischen den Bildern selbst im Zentrum, bei Gotardo/Dutra der Übergang zwischen historischen Epochen. Auch bei den Belgiern ist ein historischer Wandel zu spüren: zwischen dem Zeitalter der Lohnarbeit und dem digitalen Zeitalter, in dem die einzige verbliebene Arbeit für die kleinen Leute unter- bis unbezahlt ist. Was bleibt zu tun? Konsumieren und Daten an die Großkonzerne liefern. Währenddessen gehören selbst die Gelbwestenproteste, an denen sich Bertrand einst beteiligt hat, der Vergangenheit an. Der Protest für ein besseres Leben scheint sich erledigt zu haben.

"Was wird nun aus uns?", fragen sie sich am Ende. Man weiß es nicht. Aber man hat trotzdem viel gelacht.

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Quelle:
SZ vom 25.02.2020
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