Süddeutsche Zeitung

Berlinale 2021 - der Wettbewerb:Was die Regenrinne erzählt

Auf der Berlinale gibt es viel Elegisches zu sehen und eine grelle Satire aus Rumänien.

Von Kathleen Hildebrand

Auch wenn Pornografisches auf großen internationalen Filmfestivals längst als sanfte Provokation dazugehört: Diese zwei Minuten Amateurporno dürften so manchen Berlinale-online-Zuschauer dann doch kurz vom Frühstückstisch aufgeschreckt haben. "Bad Luck Banging or Loony Porn" vom rumänischen Regisseur Radu Jude beginnt mit der Nahaufnahme eines Penis. Eine Frau mit neonpinkfarbener Perücke und ein Mann tun, was im Heimporno-Genre eben Konvention ist. Sie bearbeiten einander, zeigen ihre Geschlechtsteile in Nahaufnahme und erzählen sich dabei, wie gut sie das finden.

Es dauert eine Weile, bis man kapiert, dass die ernsthafte Frau im mausgrauen Zweiteiler, der die Kamera danach durch die Straßen von Bukarest folgt, die Frau mit der Perücke ist. Emi ist Geschichtslehrerin an einer angesehenen Schule der Stadt und sie hat ein Problem: Der Film, den sie mit ihrem Mann gedreht hat, ist auf einer Pornoseite im Internet gelandet. Wahrscheinlich ist ihr Mann daran schuld, aber das ist jetzt zweitrangig. Ihre Schüler zeigen ihn einander auf ihren Handys, und am Abend muss Emi deshalb vor ein Tribunal der Elternschaft ihrer Schule. Gut möglich, dass sie entlassen wird.

Radu Jude, der schon mit mehreren Filmen auf der Berlinale zu Gast gewesen ist und 2015 für "Aferim!" einen Silbernen Bären für die Beste Regie gewann, erzählt Emis Geschichte nicht als persönliches Problem, sondern macht - sehr überzeugend - das ganz große Fass auf. Im mittleren Teil seines Films zeigt er Szenen aus der Geschichte Rumäniens, Kinder, die Kriegslieder singen, Momente von Rassismus, Frauenverachtung und Gewalt. Im Schultribunal, dem dritten Akt dieses satirischen Triptychons, quillt all das aus den geifernden Mündern der elitären Eltern heraus.

Eine Schlampe sei Emi, die die Kinder verdirbt, und ihre Lektionen über den Holocaust, die sie den Schülern gebe, seien ohnehin unerwünschte jüdische Propaganda. Emi kämpft, verteidigt ihre Lehre und ihre Sexualität, aber es ist auf grelle Weise deprimierend, wie vergeblich das gegenüber den vergifteten Diskursen und Verschwörungsmythen erscheint, mit denen sie konfrontiert wird. In einem von drei möglichen Schlüssen gönnt der Film ihr dann allerdings eine sehr witzige, überzogene Rache.

"Bad Luck Banging" sticht auf angenehm schockierende, offen politische Art aus einem Berlinale-Wettbewerb heraus, der ansonsten sehr viel Elegisches bietet. Dass auch das hochgradig originell sein kann, zeigt die deutsch-georgische Koproduktion "What do we see when we look at the sky" von Alexandre Koberidze. Ein junges Paar fällt einem Fluch zum Opfer, der beider Aussehen über Nacht vollkommen verändert. Liza und Georgi erkennen einander nicht wieder. Der Film zeigt ihre Suche nacheinander in einer georgischen Stadt, die auf märchenhafte Weise aus der Zeit gefallen zu sein scheint.

Regenrinnen und Überwachungskameras können sprechen, Hunde verabreden sich zum Fußballschauen, Koberidze verweilt so lange auf den Gesichtern junger Leute und Kinder, auf Straßenszenen und den milchig tosenden Wassern des Flusses, der durch die Stadt fließt, als wäre sein Plot auch nur eines von Tausenden Schicksalen, die alle gleichberechtigt sind. Einem so meditativen Film wie diesem hätte man statt eines kleinen Bildschirms im Online-Screening unbedingt eine große Leinwand gewünscht, die Ablenkung fernhält und das Versinken in diesem poetischen georgischen Sommer leichter macht.

Einen ähnlich tröstlichen Ton findet das sehr klassisch, aber beeindruckend ruhig und feinfühlig inszenierte französische Drama "Albatros" von Xavier Beauvois. Laurent ist Polizist im beschaulichen Seebad Étretat. Er ist einer von den Guten, ein verständnis- und maßvoller Mann mit netter Familie und guten Kollegen, der gerade ein historisches Häuschen renoviert. Da passiert ihm eine Tragödie: Er tötet unbeabsichtigt einen verzweifelten Bauern kurz vor dem Ruin. Die Geschichte könnte auch einen guten Fernsehfilm hergeben, aber Beauvois erzählt sie mit einem sehr besonderen, großzügigen und sanften Blick, der sich bald auf die still daliegende See hin öffnet. Dort wird Laurent Erlösung finden - und der Film ein harmonisches, glaubwürdiges Happy End.

Das achtjährige Mädchen trifft eine Gleichaltrige -seine Mutter

Trost ist auch das Thema eines der prominentesten Wettbewerbsfilme in diesem Berlinale-Jahr. Céline Sciamma, Regisseurin des international hochgelobten Historiendramas "Porträt einer jungen Frau in Flammen" von 2019, erkundet in "Petite Maman" die emotionale Welt zweier achtjähriger Mädchen. Nelly fährt mit ihren Eltern zum Haus ihrer gerade gestorbenen Großmutter. Es muss ausgeräumt werden, Nellys Mutter Marion blättert schwermütig in ihren alten Kinderheften. Die Tochter will mehr über ihre Mutter wissen, als die bereit ist zu erzählen. Im Wald hinter dem Haus trifft Nelly auf Marion. Beide sind acht Jahre alt, sehen sich zum Verwechseln ähnlich, weil sie von den Zwillingsschwestern Gabrielle und Joséphine Sanz gespielt werden, und es ist schnell klar, dass Nelly da mit niemand anderem eine Waldhütte baut als mit ihrer eigenen Mutter - als Kind. Bei der kleinen Marion zu Hause, wo sie Crêpe backen und Theater spielen, begegnet Nelly ihrer Großmutter als junger Frau.

Die Fantasie eines Kinderspiels, könnte man sagen. Aber Sciamma geht weit darüber hinaus. Nicht nur, dass auch Nellys Vater Marion sehen kann, sie ist also keine rein imaginäre Freundin, die beiden Mädchen unterhalten sich auch mit einer Ernsthaftigkeit und Poesie über die Dinge des Lebens, die den emotionalen Horizont vieler Erwachsener übersteigen dürfte. "Du hast meine Traurigkeit nicht erfunden", sagt Marion zu ihrer Tochter aus der Zukunft, als die ihr erzählt, dass sie sich manchmal verantwortlich für die Melancholie ihrer Mutter fühlt.

Die Mädchen wissen, dass sie nur eine kurze Zeit miteinander verbringen können - bis das Haus der Oma ausgeräumt ist und Marion zu einer Operation ins Krankenhaus fährt. Mit Gespür für die Vergänglichkeit dieses übernatürlichen Kindheitsherbstes, der den Wald rot und gelb einfärbt, fragen und sagen sie einander alles, was ihnen wichtig erscheint. Dann hören sie Musik über Nellys Kopfhörer, "Musik aus der Zukunft", sagt Marion und lächelt, als sie die Neo-Achtzigerjahreklänge hört. Das Lied heißt "La musique du futur", den Text hat Céline Sciamma geschrieben.

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