Berlinale-Programm:Die Problemkinderzone

Die Kindheit, da ist sich das Kino sicher, wird immer gefährlicher. Auf der Berlinale sind Jugendgewalt und Kinderarmut die dominierenden Themen.

Anke Sterneborg

Kein Zweifel, die Jugend war immer wild und gefährlich, schon in Filmklassikern wie Nicholas Rays "Denn sie wissen nicht was sie tun", Robert Wises "West Side Story" oder Georg Tresslers "Die Halbstarken". Und diese Wildheit hatte schon immer mit Verlorenheit und Verlassensein, mit Kommunikations- und Hilflosigkeit zu tun.

Film Robin Berlinale Kinder Jugendliche

Als "Robin" aus dem Heim nach Hause kommt, hat sich nichts verbessert.

(Foto: Foto: oH)

Aber es hat sich etwas radikal geändert - die gefährdeten und gewalttätigen Helden werden immer jünger, und die Auslöser für die Gewalt immer nichtiger und banaler. Dauernd hört und liest man derzeit von Babys und Kindern, die vernachlässigt und misshandelt werden, und von Kindern und Jugendlichen, die zu Gewalttätern und Amokläufern werden, an Schulen und auf den Straßen, in amerikanischen Ghettos und südamerikanischen Favelas, in der französischen Banlieue oder in der deutschen Provinz.

Von Abzockern, Drogenhandel und Gangkriegen ist die Rede; und längst nicht mehr nur von jenen im fernen Südamerika, sondern von denen in Kreuzberg. Die Frage ist nur: Hat sich wirklich das Problem verschärft, oder ist es nur der Blick, der schärfer geworden ist, die Berichterstattung?

Die Kindheit, da ist sich das Kino sicher, ist keine Schutzzone mehr, in der unschuldige Geschöpfe in Ruhe heranwachsen können - das spürt man quer durch alle Sektionen in den Filmen der diesjährigen Berlinale: Im Eröffnungsfilm der Perspektive Deutsches Kino "Berlin - 1. Mai" (Regie: Sven Taddicken, Jakob Ziemnicki, Carsten Ludwig und Jan C. Glaser) tönt ein elfjähriger türkischer Junge herum, dass er einen Bullen "allemachen" will, und weil sich die entsprechende Gelegenheit nicht bietet, drischt er später mit einer zerbrochenen Flasche auf einen harmlosen Alt-68er ein.

Ein etwa gleichaltriger Junge ringt in dem pakistanischen Film "Son of a Lion" (Regie: Benjamin Gilmour), der im Forum läuft, mit seinem Vater, einem überzeugten Dschihadkämpfer, um eine eigene, künstlerische, friedliche Position. In den engen Gassen in Manilas Armenviertel Tondo weiß schon ein zehnjähriger Junge, dass hier nur überleben kann, wer hart ist. Am Ende des philippinischen Films "Tribu" (Regie: Jim Libiran), wird er mit einer Waffe ans Bett seiner Mutter und ihres Liebhabers treten. Die Kids der französischen Vorstadt in "Regarde-moi" (ebenfalls Forum/Regie: Audrey Estrougo) sind schon etwas älter, ihr Frust, die zerbrochenen Familien und enttäuschte Liebe führen zu gewalttätigen Ausbrüchen.

Spirale der Aggression

In all diesen Geschichten fehlen die Väter, überall kämpfen die Kinder um Perspektiven, die ihnen die Erwachsenen nicht mehr geben, dem zwölfjährigen Jessy im kanadischen Montreal von "Le ring" (Panorama/Regie: Anaïs Barbeau-Lavalette) so wenig wie dem achtjährigen "Robin" in Köln (Perspektive Deutsches Kino, Regie: Hanno Olderdissen).

Die beiden achtjährigen Kinder in Damian Harris' Wettbewerbsbeitrag "Gardens of the Night" müssen neun Jahre in der Gefangenschaft eines Kidnappers ertragen; und in der deutschen Produktion "Feuerherz" (Regie: Luigi Falorni) erzählt ein junges Mädchen von ihrem Schicksal als Kindersoldatin in Eritrea. Es ist müßig, der Autorin der Buchvorlage, Senait G. Mehari, vorzuwerfen, dass sie ihr eigenes Schicksal womöglich ein wenig zugespitzt hat - es gibt, ob die Geschichte nun stimmt oder nicht, genug Kinder auf der Welt, die in den Krieg gezwungen werden.

Die Kinder- und Jugendfilme der Reihe Generation versuchen von Haus aus, einen Zugang zu finden zur Welt ihres Zielpublikums. Der Brasilianer Fernando Meirelles hat vor fünf Jahren in "City of God" vom ebenso energiestrotzenden wie todesnahen Leben in den Favelas von Rio erzählt, den notdürftigen Behausungen der Ärmsten, durch die wütende Gangmitglieder hindurchfegen wie ein Unwetter, wenn sie einen Abtrünnigen suchen.

Selbst wenn sie es versuchen, haben die Kinder hier kaum eine Chance, dem Sog der Gewalt zu entkommen. Aus dem wuchtigen Film ging die in Brasilien sehr populäre Fernsehserie "City of Men" hervor, die über vier Staffeln den Alltag dieser Jugendlichen in den Favelas verfolgte und zwei vaterlose Jungs von ihrem 13. bis 17. Lebensjahr begleitete.

Im gleichnamigen Film, den Paulo Morelli inszeniert hat und der nun in der Sektion Generation läuft (und im Sommer in unsere Kinos kommen wird), werden Acerola und Laranjinja, die noch immer von den einstigen Laien Douglas Silva und Darlan Cunha gespielt werden, volljährig und ringen nach wie vor darum, aus der Spirale der Gewalt von Gangkriegen und Drogengeschäften auszubrechen. Auch wenn Morelli geradliniger und leiser erzählt als damals sein Mentor Meirelles, hat auch sein Film noch die fiebrige, unruhige Energie des wirklichen und unablässig bedrohten Lebens.

Kindliche Krisengebiete

Man spürt, wie diese vibrierenden Geschichten davon profitieren, dass man sie heute dank der billigen, schnellen Digitaltechnik so authentisch erzählen kann, mit kleinen beweglichen Kameras, die die Atmosphäre seismographisch wiedergeben - ohne Kosten zu verursachen. Der philippinische Regisseur Jim Libiran hat für seinen ersten Film "Tribu" bei den rivalisierenden Jugendgangs von Tondo gedreht.

Die Geschichte eines Mordes, der ein ebenso unerbittliches wie sinnloses Bandengemetzel in Gang setzt, dient ihm nur als lockeres Gerüst für eine Dokumentation des Alltagslebens in den düsteren, schmutzigen Gassen und engen Behausungen Manilas - Initiationsriten für neue Gangmitglieder, Beerdigungsrituale, Straßenkämpfe und die Subkultur der Gangsta-Rapper.

Fiktion und Realität sind in all diesen Filmen aus den kindlichen Krisengebieten nicht voneinander zu trennen, und nicht umsonst bauen auch westliche Regisseure wie Marc Forster in "Drachenläufer" oder Luigi Falorni in "Feuerherz", auf die street credibilty von Laiendarstellern, auf die dokumentarischen Qualitäten von Originalschauplätzen und Landessprachen, und die Authentizität persönlicher Erfahrungsberichte - die es neuerdings immer wieder auf die Bestsellertische der Buchhandlungen schaffen.

Überall auf der Welt gibt es Kinder, die zu früh erwachsen werden müssen, wie die Straßenkinder aus Queens, die sich in "Chop Shop" auf den Schrottplätzen mit Automechanikerhilfsarbeiten und Ersatzteildiebstählen durchschlagen. Immer weniger Gründe gibt es für die knapp mit dem Leben davon gekommenen Erwachsenen, ihre Jugend nostalgisch und romantisch zu verklären. Während die einen aus existentieller Not gewalttätig werden, ist bei den anderen die gähnende Langeweile der Auslöser.

Wo die einen von der Realität überfordert werden, hatten die anderen nicht genug Kontakt mit ihr - beispielsweise die reichen Jugendlichen, die im Perspektive-Beitrag "Teenage Angst" im teuren Privatschul-Reservat gefährliche Machtspiele proben. Aber die erlesen ausgestatteten und luxuriös komponierten Szenerien in diesem Film wirken fast erstickend saturiert im Vergleich zu der Welt der Straßenkinder. Hier wie dort breitet sich profunde Verstörung aus, eine beunruhigende Verrohung.

Die Filmemacher der Welt versuchen, sie zu fassen zu bekommen; die berühmten wie Haneke mit "Funny Games", Gus Van Sant mit "Elephant" oder Alejandro González Iñárritu mit "Babel". Die noch unbekannten Regisseure dieser Berlinale eifern ihnen nach, manche Sektionen sind geradezu zur Problemkinderzone geworden, die Debüts der Perspektive Deutsches Kino beispielsweise: Die oft jungen Regisseure sind noch ganz nah an der kindlichen Wahrnehmung, der unruhige, jugendliche Blick passt gut zu den tastenden Anfängen des filmischen Erzählens.

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