Süddeutsche Zeitung

Berlinale:Leise rieselt der Schnee

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Die Berlinale eröffnet mit Lone Scherfigs New-York-Film "The Kindness of Strangers" - ein großer Knall ist das nicht, aber am Ende sind alle frisch verliebt.

Von David Steinitz

"Die Welt ist egoistisch geworden", urteilte die französische Schauspielerin Juliette Binoche am Donnerstag noch vor der offiziellen Eröffnung der Berlinale. Die 54-jährige Pariserin ist in diesem Jahr die Präsidentin der internationalen Jury, und auf der Pressekonferenz zum Festivalstart fasste sie die Lage mit strenger Miene zusammen: "Länder schließen ihre Grenzen, Regierungen funktionieren nicht wie sie sollten". Ergo: Die Menschen müssten dringend wieder zu "mehr Humanität" zurückfinden.

In dieser Hinsicht dürfte der Eröffnungsfilm am Abend, die Tragikomödie "The Kindness of Strangers", die in den nächsten Tagen mit sechzehn anderen Filmen um den Goldenen Bären konkurriert, genau nach dem Geschmack von Madame Binoche gewesen sein. Der Film ist ein Plädoyer für mehr Humanität im Alltag, vor der Kulisse der nicht immer ganz menschenfreundlichen Lieblingsgroßstadt des Kinos: New York.

Inszeniert hat den Film die dänische Regisseurin Lone Scherfig. Die 59-Jährige gehört zu einer goldenen Filmemachergeneration aus Dänemark. Ende der Neunziger war sie mit Kollegen wie Lars von Trier und Thomas Vinterberg eine der Mitbegründerinnen der "Dogma"-Bewegung, die das europäische Kino auf den Kopf stellte. Im Jahr 2001 gewann sie auf der Berlinale mit ihrem Dogma-Film "Italienisch für Anfänger" den Silbernen Bären. In den letzten Jahren hat sie vor allem im Ausland und auf Englisch gedreht, unter anderem "An Education" nach einem Drehbuch von Nick Hornby.

Auch "The Kindness of Strangers" ist wieder eine englischsprachige Koproduktion. Im Mittelpunkt des Films steht die junge Mutter Clara (Zoe Kazan). Sie hat frühmorgens ihre beiden Söhne ins Auto gepackt und ist mit ihnen aus der Provinz ins winterliche New York gefahren, um ihrem prügelnden Ehemann zu entfliehen, der sich an den Kindern vergangen hat. Den Jungs erzählt sie zunächst, sie würden Urlaub machen im glitzernden Manhattan. Aber da Clara keinen einzigen Dollar in der Tasche hat und niemanden kennt, der ihr helfen würde, fliegt der Schwindel natürlich bald auf. Als dann auch noch das rostige Auto abgeschleppt wird, stehen die drei verloren auf der Straße. Wohin in dieser reichen Stadt, wenn man Hunger hat und friert, aber keinen Cent besitzt? Zum Aufwärmen schleppt sie die Kinder in die nächste öffentliche Bibliothek; um an etwas zu essen zu kommen, schleicht sie sich in ein Hotel und räumt die Horsd'œuvres vom Tablett in ihre Handtasche.

Parallel zu dieser Haupthandlung webt die Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, die Geschichte von ein paar anderen verzweifelten New Yorkern ein. Darunter die Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough), die sich von ihrer Einsamkeit ablenkt, indem sie nach der Schicht noch eine Therapiegruppe leitet und bei der Armenspeisung aushilft; und der Gastronom Marc (Tahar Rahim), der frisch aus dem Gefängnis kommt und nun ein russisches Lokal führt und Wodka und Kaviar serviert, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Wie es sich für das Genre des melancholischen Großstadt-Episodenfilms gehört, kreuzen sich die Wege der Protagonisten, damit sie sich gegenseitig helfen und ineinander verlieben können, während der Schnee durch Hochhausschluchten rieselt. Gegen diese Form des Wohlfühlkinos spricht an sich überhaupt nichts. Zumal auch dieses Genre viel Können braucht, weil es gar nicht so einfach ist, die Balance zwischen Tragik und Leichtigkeit zu bewahren - was Scherfig durchgehend gelingt. Auch die Hauptdarstellerin Zoe Kazan - die Enkelin des legendären Hollywoodregisseurs Elia Kazan, der einst James Dean und Marlon Brando groß machte - ist als überforderte Mutter gut.

Trotzdem fragt man sich, warum gerade dieser Film von Festivaldirektor Dieter Kosslick zum Startschuss seines letzten Festivals auserkoren wurde. Denn ein Eröffnungsfilm sollte im Idealfall ja doch ein erster ordentlicher Knall im Wettbewerbsfeuerwerk sein. Bei "The Kindness of Strangers" handelt es sich aber mehr um ein solides Ploppen, weil die Handlungsstränge ohne größere formale Experimente oder dramatische Pointen brav aufs glückliche Ende zusteuern.

Mutter Clara zum Beispiel findet im rauen Großstadtdschungel einen attraktiven Gentleman mit lässigem Bartwuchs, der zufälligerweise einen freundlichen Anwalt kennt, der mit Bravour ein schnelles Gerichtsverfahren anstrebt, an dessen Ende der böse Ehemann im Gefängnis sitzt und neue amouröse Kombinationen möglich werden. Sogar für den tapferen Anwalt, der sich nebenbei in die eingangs erwähnte einsame Krankenschwester verliebt.

Ein bisschen viel Happy End auf einmal? Vielleicht. Andererseits will man so ein Happy End ja auch niemandem madig machen, gerade wenn man kurz davor von Juliette Binoche persönlich zu mehr Humanität ermahnt wurde. Und für Wunschträume ist das Kino schließlich überhaupt erst erfunden worden.

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Quelle:
SZ vom 08.02.2019
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